19. Der Ruf des Lebens
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kranken, alten, verbitterten Vaters, der sein Kini Offizier überläßt er, am anderen Morgen für
durch seine unerträglichen Launen quält unt das weitere zu sorgen. „Der Ruf des Lebens“.
zur Verzweiflung bringt. Die Tichter, von
Natur aus zart veranlagt, haßt den Vater, und In diesem Augenblick, just wo der Offizier zum
Revolver greift, steht die Tochter des toten
sobald ihr der Arzt, der überdies eine aus¬
Obersten vor ihm. Beide sind in Liebe zu ein¬
gesprochene Neigung für das uuglückliche Mädchen ander entbrannt und stürmen hinaus. Wie am
im Herzen trägt, die gänzliche Hoffnungslosigkeit Schlusse des ersten Aktes die Leiche des Vaters:
des kranken Vaters schildert und in ihr die von der Tochter verlassen wird, so geschieht es
Pflicht zur Selbsterhaltung aufruft, indem er auch jetzt am Schlusse des zweiten mit der Leiche
ihr ganz unverblümt anrät, dem Vater die
nötige Dosis Morphiumtropfen zu reichen, sofern der hingeknallten Oberstenfrau. Es ist eben der
Rerliner Theaterbrief.
er nach dem Beruhigungstranke verlangt, ist sie Ruf des Lebens! Kann es etwas menschlicheres,
W
auch völlig bereit, dem „Ruf des Lebens“ Folge etwas wahreres geben? Zu Anfang des dritten
Artur Schnitzlers „Der Ruf des Lebens“.
zu geben. Sie reicht dem Vater das Glas mit Aktes finden wir die Tochter des ins Jenseits
Der bekannte Wiener Schriftsteller Artur
dem Safte, der eilig trunken macht. Der Alte binüberbeförderten Vaters in einem nieder¬
Schnitzler trägt seinen Namen wirklich mit
stirbt auch prompt nach wenigen Minuten. Er österreichischen Dorfe, der Arzt vom ersten Akte
em Rechte Literarisch gesprochen. Er ist
fällt tot zur Erde. Die Tochter greift nach dem ist wieder zur Stelle. Man spricht über die
kämlich ein richtiger Schnitzler. Er schnitzelt an
Zimmerschlüssel, den der Alte kurz vor seinem Angelegenheit. Die Tochter findet natürlich
seinen kleinen zierlichen, belustigenden oder auch
Ende noch in die Tasche gesteckt hatte, um die nicht die mindeste Reue über die Untat, die „der
ernsthaften Einfällen und an seinen Figürchen
Tochter an einem Fluchtversuche aus dem Zimmer Ruf des Lebens“ gefordert. Aber ganz leicht
so lange herum, bis etwas ganz hübsches her¬
zu hindern und stürzt wortlos hinaus. Wohin? ist ihr dabei doch nicht zu Mute. Nun wird
auskommt. So entstand eine Reihe dramatischer
Zu einem jungen Leutnant, zu dem sie in Liebe von einer Schlacht erzählt, die angeblich ge¬
Filigranarbeiten, wie der „Anatol=Zyklus“, der
entbrannt ist, den sie aber bei einer ersten Be= schlagen sein solle. Allmählich erfährt man
„grüne Kakadu“ und anderes, das glitzerte, fun¬
gegnung zurückgewiesen hatte. Wer aber ist genaues. Die Schlacht ist verloren. Die blauen
kelte und hier und da wohl auch ein tieferes
dieser junge Offizier? Einer von den blauen Kürassiere sind alle tot, bis auf einen Offizier.
Interesse erregen konnte. Seit einiger Zeit ge¬
Kürassieren, durch deren Flucht vor dreißig Er hat sich aus dem Getümmel gerettet und sich
lüstet es indessen Herr Schnitzler nach höherem
r dann in einer Schenne erschossen. Soll man es
Jahren eine Schlacht verloren gegangen war:
Ruhme. Er will unter die großen dramatischen
und die nunmehr sich allesamt, Mannschaften noch ausdrücklich sagen, daß dieser Offizier der
Schriftsteller eingereiht sein. Aber diesem gewiß
und Offiziere, einander zugeschworen hatten, die Geliebte der Oberstenfrau und der Geliebte
recht löblichen und nach den bisherigen Erfolgen
Scharte von damals auszutilgen und samt und Mariens, eben der Tochter des pensionierten
seiner Einakter — die nebenbei bemerkt an
sonders den Tod in der Schlacht zu suchen. Militärs, gewesen? Wie Marie auch davon er¬
einzelne Vorbilder von Alfred de Musset an¬
Diese Schlacht steht nun unmittelbar bevor. fährt, ist es auch mit ihr zu Ende.
klingen — noch mehr verzeihlichen Willen ent¬
Also — „Der Ruf des Lebens“. Der junge Das ist „Der Ruf des Lebens“ nach Artur
spricht weder die angeborene Kraft noch die bis
Offizier hat aber ein Liebesverhältnis mit der Schnitzlers Rezept. Soll man nach dieser In¬
zu einem gewissen Grade durch energische
wildleidenschaftlichen jungen Frau des Obersten haltsangabe noch die einzelnen kraß in die Augen
Uebung zu erwerbende Fähigkeit, einen dra¬
jener totgeweihten Kürassiere. Der Oberst ahnt fallenden Unmöglichkeiten der Handlung wie der
matisch gedachten Vorwurf auch kunst= und
so etwas. Er sucht und findet Gelegenheit zu Charaktere aufzählen? Soll man all den
bühnengemäß durchzuführen. Sowohl mit seinem
einer letzten Unterredung mit dem jungen Offizier, szenischen Unsinn, soll man all die innerlichen!
„Zwischenspiele", noch mit dem „Ruf des
für den er eine fast väterliche Zuneigung hegt. Unwahrheiten aufdecken? Derartige Sachen hat
Lebens“ hat Artur Schnitzler neue Lorbeeren
Er will ihn vor dem sicheren Untergange in Alexander Dumas Vater vor diem halben Jahr¬
seinem früheren Ruhmeskranze hinzuzufügen
der Schlacht retten, indem er ihn nach Wien hundert und darüber zusammengeschrieben. Aber
vermocht. Der Titel seines gestern mit eisiger
mit einem Bericht an den Kaiser schicken sein Tun war naiv. Schnitzler will indessen
Kühle von der Zuhörerschaft im Lessing= will. Vergebens. Der Offizier will an der wahrscheinlich mit diesem „Ruf des Lebens“ in
theater ausgenommenen Schauspieles ist nur
Seite seines Obersten sechten. Sowie der die Nachttiefen der Frauenseele hineinleuchten!
im bitterst ironischen Sinne zu verstehen. Denn
junge Offizier sein Zimmer verläßt, um sich zur Törichtes Beginnen und dichterisch unwahr oben¬
alle, alle, die dem Lockruf des Lebens rücksichts¬
Wachtmannschaft zu begeben, stürzt die Tochter drein. Wir möchten dem Verfasser des „Anatols
los folgen, sind dem Schicksal verfallen. Wie
des toten Vaters atemlos herein. Sie findet Zyklus“ zurufen: „Schnitzler bleibe bei Deineyl
wahr, wie ergreifend! Allein es muß sich eben
das Zimmer leer, wird unruhig und schlüpst Leisten.“ Gespielt wurde diese Monstrosizät
ein echter dramatischer Dichter dieses Satzes an¬
hinter einen Vorhang. Sowie der Offizier ausgezeichnet. Aber alle Mühe war vergebens.
nehmen, um seine erschütternde Kraft an uns
Berlin, den 26. Februar.
zurückkommt, stürmt die Frau des Obersten
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armen Staubgeborenen im Bühnenbilde zu er¬
hinein und beschwört den Geliebten, mit ihr zu
weisen. Was aber hat Herr Schnitzler getan,
entfliehen. Er weist das Ansinnen mit Stolz
um uns die Eitelleit des Rufes des Lebens
und Verachtung gegen die Verführerin zurück.
szenisch zu demonstrieren?
Der Oberst, der längst um die Dinge weiß, be¬
Man höre.
tritt durch das Fenster das Zimmer, und nach
Ein Mädchen, Tochter eines peisionierten Mili= einer kurzen, aber um so widerlicheren Szene
tärs, vertrauert seine Jugend im Hause seines knallt er die ehebrecherische Frau nieder. Dem
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kranken, alten, verbitterten Vaters, der sein Kini Offizier überläßt er, am anderen Morgen für
durch seine unerträglichen Launen quält unt das weitere zu sorgen. „Der Ruf des Lebens“.
zur Verzweiflung bringt. Die Tichter, von
Natur aus zart veranlagt, haßt den Vater, und In diesem Augenblick, just wo der Offizier zum
Revolver greift, steht die Tochter des toten
sobald ihr der Arzt, der überdies eine aus¬
Obersten vor ihm. Beide sind in Liebe zu ein¬
gesprochene Neigung für das uuglückliche Mädchen ander entbrannt und stürmen hinaus. Wie am
im Herzen trägt, die gänzliche Hoffnungslosigkeit Schlusse des ersten Aktes die Leiche des Vaters:
des kranken Vaters schildert und in ihr die von der Tochter verlassen wird, so geschieht es
Pflicht zur Selbsterhaltung aufruft, indem er auch jetzt am Schlusse des zweiten mit der Leiche
ihr ganz unverblümt anrät, dem Vater die
nötige Dosis Morphiumtropfen zu reichen, sofern der hingeknallten Oberstenfrau. Es ist eben der
Rerliner Theaterbrief.
er nach dem Beruhigungstranke verlangt, ist sie Ruf des Lebens! Kann es etwas menschlicheres,
W
auch völlig bereit, dem „Ruf des Lebens“ Folge etwas wahreres geben? Zu Anfang des dritten
Artur Schnitzlers „Der Ruf des Lebens“.
zu geben. Sie reicht dem Vater das Glas mit Aktes finden wir die Tochter des ins Jenseits
Der bekannte Wiener Schriftsteller Artur
dem Safte, der eilig trunken macht. Der Alte binüberbeförderten Vaters in einem nieder¬
Schnitzler trägt seinen Namen wirklich mit
stirbt auch prompt nach wenigen Minuten. Er österreichischen Dorfe, der Arzt vom ersten Akte
em Rechte Literarisch gesprochen. Er ist
fällt tot zur Erde. Die Tochter greift nach dem ist wieder zur Stelle. Man spricht über die
kämlich ein richtiger Schnitzler. Er schnitzelt an
Zimmerschlüssel, den der Alte kurz vor seinem Angelegenheit. Die Tochter findet natürlich
seinen kleinen zierlichen, belustigenden oder auch
Ende noch in die Tasche gesteckt hatte, um die nicht die mindeste Reue über die Untat, die „der
ernsthaften Einfällen und an seinen Figürchen
Tochter an einem Fluchtversuche aus dem Zimmer Ruf des Lebens“ gefordert. Aber ganz leicht
so lange herum, bis etwas ganz hübsches her¬
zu hindern und stürzt wortlos hinaus. Wohin? ist ihr dabei doch nicht zu Mute. Nun wird
auskommt. So entstand eine Reihe dramatischer
Zu einem jungen Leutnant, zu dem sie in Liebe von einer Schlacht erzählt, die angeblich ge¬
Filigranarbeiten, wie der „Anatol=Zyklus“, der
entbrannt ist, den sie aber bei einer ersten Be= schlagen sein solle. Allmählich erfährt man
„grüne Kakadu“ und anderes, das glitzerte, fun¬
gegnung zurückgewiesen hatte. Wer aber ist genaues. Die Schlacht ist verloren. Die blauen
kelte und hier und da wohl auch ein tieferes
dieser junge Offizier? Einer von den blauen Kürassiere sind alle tot, bis auf einen Offizier.
Interesse erregen konnte. Seit einiger Zeit ge¬
Kürassieren, durch deren Flucht vor dreißig Er hat sich aus dem Getümmel gerettet und sich
lüstet es indessen Herr Schnitzler nach höherem
r dann in einer Schenne erschossen. Soll man es
Jahren eine Schlacht verloren gegangen war:
Ruhme. Er will unter die großen dramatischen
und die nunmehr sich allesamt, Mannschaften noch ausdrücklich sagen, daß dieser Offizier der
Schriftsteller eingereiht sein. Aber diesem gewiß
und Offiziere, einander zugeschworen hatten, die Geliebte der Oberstenfrau und der Geliebte
recht löblichen und nach den bisherigen Erfolgen
Scharte von damals auszutilgen und samt und Mariens, eben der Tochter des pensionierten
seiner Einakter — die nebenbei bemerkt an
sonders den Tod in der Schlacht zu suchen. Militärs, gewesen? Wie Marie auch davon er¬
einzelne Vorbilder von Alfred de Musset an¬
Diese Schlacht steht nun unmittelbar bevor. fährt, ist es auch mit ihr zu Ende.
klingen — noch mehr verzeihlichen Willen ent¬
Also — „Der Ruf des Lebens“. Der junge Das ist „Der Ruf des Lebens“ nach Artur
spricht weder die angeborene Kraft noch die bis
Offizier hat aber ein Liebesverhältnis mit der Schnitzlers Rezept. Soll man nach dieser In¬
zu einem gewissen Grade durch energische
wildleidenschaftlichen jungen Frau des Obersten haltsangabe noch die einzelnen kraß in die Augen
Uebung zu erwerbende Fähigkeit, einen dra¬
jener totgeweihten Kürassiere. Der Oberst ahnt fallenden Unmöglichkeiten der Handlung wie der
matisch gedachten Vorwurf auch kunst= und
so etwas. Er sucht und findet Gelegenheit zu Charaktere aufzählen? Soll man all den
bühnengemäß durchzuführen. Sowohl mit seinem
einer letzten Unterredung mit dem jungen Offizier, szenischen Unsinn, soll man all die innerlichen!
„Zwischenspiele", noch mit dem „Ruf des
für den er eine fast väterliche Zuneigung hegt. Unwahrheiten aufdecken? Derartige Sachen hat
Lebens“ hat Artur Schnitzler neue Lorbeeren
Er will ihn vor dem sicheren Untergange in Alexander Dumas Vater vor diem halben Jahr¬
seinem früheren Ruhmeskranze hinzuzufügen
der Schlacht retten, indem er ihn nach Wien hundert und darüber zusammengeschrieben. Aber
vermocht. Der Titel seines gestern mit eisiger
mit einem Bericht an den Kaiser schicken sein Tun war naiv. Schnitzler will indessen
Kühle von der Zuhörerschaft im Lessing= will. Vergebens. Der Offizier will an der wahrscheinlich mit diesem „Ruf des Lebens“ in
theater ausgenommenen Schauspieles ist nur
Seite seines Obersten sechten. Sowie der die Nachttiefen der Frauenseele hineinleuchten!
im bitterst ironischen Sinne zu verstehen. Denn
junge Offizier sein Zimmer verläßt, um sich zur Törichtes Beginnen und dichterisch unwahr oben¬
alle, alle, die dem Lockruf des Lebens rücksichts¬
Wachtmannschaft zu begeben, stürzt die Tochter drein. Wir möchten dem Verfasser des „Anatols
los folgen, sind dem Schicksal verfallen. Wie
des toten Vaters atemlos herein. Sie findet Zyklus“ zurufen: „Schnitzler bleibe bei Deineyl
wahr, wie ergreifend! Allein es muß sich eben
das Zimmer leer, wird unruhig und schlüpst Leisten.“ Gespielt wurde diese Monstrosizät
ein echter dramatischer Dichter dieses Satzes an¬
hinter einen Vorhang. Sowie der Offizier ausgezeichnet. Aber alle Mühe war vergebens.
nehmen, um seine erschütternde Kraft an uns
Berlin, den 26. Februar.
zurückkommt, stürmt die Frau des Obersten
7
armen Staubgeborenen im Bühnenbilde zu er¬
hinein und beschwört den Geliebten, mit ihr zu
weisen. Was aber hat Herr Schnitzler getan,
entfliehen. Er weist das Ansinnen mit Stolz
um uns die Eitelleit des Rufes des Lebens
und Verachtung gegen die Verführerin zurück.
szenisch zu demonstrieren?
Der Oberst, der längst um die Dinge weiß, be¬
Man höre.
tritt durch das Fenster das Zimmer, und nach
Ein Mädchen, Tochter eines peisionierten Mili= einer kurzen, aber um so widerlicheren Szene
tärs, vertrauert seine Jugend im Hause seines knallt er die ehebrecherische Frau nieder. Dem
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