II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 152

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19. Der Ruf des Lebens box 24/2
ja heutzutage selbst Dramatiker nicht, die sich sondern um die Ausklügelung einer Geschichte,
sonst mit ganz einfachen Theaterstücken zur Unter=durch die irgend etwas bewiesen werden soll. Wie
haltung begnugt haben. Irgendwelche höhere oder) handeln Diese Soldaten, kurz bevor sie in den
tiefere Weisheit muß uns immer noch neben der
Tod ziehen? Und wie wirkt ihr Handeln auf
Darstellung der Lebensschicksale gepredigt werden; andere, Diese anderen sind nun wieder ausge¬
irgend ein „Problem“ soll noch nebenher gelöst klügelt, nicht gelebt. Da ist ein alter Rittmeister
werden, denn wer läßt sich durch Warnungen wie
von 79 Jahren, ein Untier gegen seine einzige
unsers größten Kritikers Vischer vor der Problem= Tochter, die er quält wie ein Zuchthauswärter,
dichtung, die uns Jlse Frapan in ihren Vischer= eine so teuflische Gestalt, daß man sie auf der
Erinnerungen berichtet,
warnen? Auch für Bühne noch woniger als im Leben erträgt. Seine
[Schnitzler ist der Vorsatz, ein Problem zu Tochter ist Irene Triesch, denn man muß ia bei
lösen, anstatt uns Lebensgeschicke darzustellen, die
der Betrachtung des deutschen Dramas der Gegen¬
sich aus Handlungen entwickeln, zum Unglück aus¬
wart mehr als je zuvor von den Schauspielern
geschlagen. Sein Problem lautete: was geschieht,
sprechen weil sie auch mehr als je zuvor die un¬
wenn der Tod und das Leben sich um blühende
entbehrlichen Mitarbeiter der dramatischen Dichter
junge Menschen streiten? Welchem Rufe werden
geworden sind. Die Rolle der Tochter dieses
diese Menschen folgen, wer von beiden, der Tod
alten Ekels von Rittmeister ist so offenbar für
oder das Leben, wird Sieger bleiben? Selbst=Irene Triesch gescrieben, daß es auf ihren
verstäindlich das Leben, denn für eine Weile ist
Namen im Stück gar nicht ankommt. Diese
1 das Leben immer mächtiger als der Tod, bis
Tochter, beiläufig von 26 Jahren, soll nach der
ldann der Allsieger alles Lebendigen erbarmungslos
Absicht des Dichters all die Jahre die unerträg¬
das letzte Wort spricht. Dem lockenden Rufe des
liche Behandlung des Vaters erduldet haben, ob¬
Lebens folgt ein schon dem Tode verfallenes
gleich sie ihn haßt und sich ins Leben hinaus¬
schwindsüchtiges junges Mädchen: sie verläßt heim¬
sehnt. Gemacht unnatürlich, nicht gelebt. So,
wie uns diese Tochter vom ersten Auftritt an vor¬
lich die Mutter und läuft zu ihrem Liebsten.
Dieser nimmt sie hin, obgleich er selber dem Tode
geführt wird, glauben wir eben nicht daran, daß
geweiht ist: morgen muß er in den Krieg ziehen,
sie auch nur eine Woche sich gefallen lassen würde,
er ist Offizier eines Regiments, das geschworen ärger als ein Sträfling behandelt zu werden.
hat, bis auf den letzten Mann vor dem Feinde Vor einigen Wochen hat sie einmal eine Nacht
zu fallen. Von diesem Tode aller wird mit einer auf einem Offiziersball zugebracht, hat dort mit
unerschütterlichen Selbstverständlichkeit vom einem jungen Offizier getanzt und sehnt sich nach
ersten bis zum letzten Akt gesprochen, daß wir lihm verzehrend. Er ist natürlich einer der dem Tod
stutzig werden. Das Stück spielt in der zweiten
geweihten Offiziere jenes Schicksalsregiments.
Hälfte des 19. Jahrhunderts, und eine Berlinerlder Nacht vor dem Ausmarsch dieser blauen
Zuhörerschaft ist militärisch zu gebildet, um an Kürassiere ermordet sie ihren Vater durch einen
solche Kriegsphantasiestücke zu glauben, daß die absichtlich verstärkten Schlaftrunk und läuft zu
Offiziere, aber auch die Mannschaften eines Re=Ijenem Offizier. Dort wird sie hinter einem drama¬
gimentes, sich zugeschworen haben sollten, d## tisch bequemen Vorhang Zeugin einer fürchter¬
keiner von ihnen lebend zurückkehrt. Wir er=lichen Begebenheit: der Oberst des Regiments er¬
des
innern uns
berühmten Todesrittes der lscheint bei einem der jüngsten Offiziere findet
Berliner Theater.
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Bredowschen Reiterbrigade bei Mars=la=Tour, wir
seine Frau bei ihm, erschießt sie und läßt dem
wissen auch von dem ebenso todesmutigen Angriff
Offizier keine andere Wahl, als sich selbst zu er¬
00- „Der Ruf des Lebens“.
der französischen Reiter=Regimenter bei Sedan, schießen. In dem Augenblick aber, wo er nach
Drama in drei Akten von Arthur Schnitzler.
und doch ist nahezu die Hälfte der sich damals dem der Pistole greift, erscheint Irene Triesch vor der
Erst: Aufführung im Lessing=Theater.
verführerischen
Gardine, lächelt' ihn mit
Tode weihenden Offiziere und Mannschaften mit
dem Leben davongekommen. Als ob es nur von
Lächeln an, und der Bühnenvorhang fällt ver¬
(Eigener Bericht.)
schwiegen.
dem Willen eines Obersten und seiner Offiziere
Berlin, 25. Februar.
rabhinge, ob sie alle in der Schlacht fallen wollen,
Im dritken Akt erfahren wir, daß der lunge
Gerhard Hauptmanns „Pippa“, die von des
es
i denn, daß sie geradezu Selbstmort
Offizier sich vor dem Ausmarsch tatsächlich
Dichters unentwegtem Freunde Otto Brahm mit
üben! Und warum diese unerhörte Aufopferungs=schossen hat, und ein „Raisonneur“ des Stückes
anerkennenswerter Aufopferung, trotz dem offen¬
wut? Weil das Regiment in einem früheren hält eine sehöne Rede über den verschieden klin¬
kundigsten Mißerfolge, noch immer auf dem Spiel¬
Kriege vor dreißig Jahren angeblich in der genden Ruf des Lebens. Der Zuschauer aber
plan gehalten wurde, hat sich mit der Zeit doch
Schlacht geflohen sei, und dadurch Schlacht und geht davon mit dem Gefühl, daß dies alles kein
so völlig um Ehr und Ansehen getanzt, daß auch
Sieg zu Ungunsten des Auterlandes entschieden Leben, nicht einmal Bühnenleben war, daß, er
der Reiz der Neugier,
die echt großstädtische haben soll.
nur zurecht gemachte Gewalttätigkeiten, kein wirk¬
Um diefe an der Fahne des Re¬
Sucht des Dabeigewesenseinmüssens das Glas=giments haftende Schmach abzuwaschen, wurde
liches Drama geschaut hat und selbst die beste
hüttenmärchen nicht länger auf der Bühne haitenjener Todesschwur geschworen, und selbst die
Darstellung konnte über diese Empfindung nicht
konnte, und so mußte denn für den Rest der
hinwegtäuschen.
lebenslustigsten jungen Leutnants haben ihn mit¬
L. E.
Spielzeit der Versuch mit einem anderen modernen geschworen.
„Der Ruf de
Klassiker gemacht werden.
Schon aus dieser Voraussetzung erkennen wir,
Lebens“ klingt von vornherein verdächtig daß es sich nicht um ein innerlich gelebtes und
symbolisch; ober ohne ein bißchen Symbolik tun wie ein Lebewesen gewachsenes Stuck handelt,