II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 162

19. Der Ruf des Lebens
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Und dann wieder der Scharfsinn der an Wahnwitz grenzenden
Aber mit allen Gebrechen der Ueberladung, mit aller bis
Angst, die den delphischen Fluch mit diesem Abscheu vor dem
an die Grenze der Unnatur gehenden Steigerung des Gretten
Gemeinen künstlich zusammenbieg. Nur an Königliches, sagt
und des Sexuellen, ist das Werk reich an poetischer Schönheit.
er, könne er sich hingeben, und Königliches sah er nur an der
die selbst die dramatisch schwächeren Teile durchflutet und die
Fürstin von Korinth. So schlägt sich ihm das Orakel nach innen,
den von Hebbel und Grillparzer beeinflußten und doch in ihrer
so flüchtet er wie von Furien gepeitscht vor der vermeintlichen
Conart und Plastik eigentümlichen Dersen einen großen Zauber
Mutter, um just in diesem überreizten Zustande reif für Ge¬
verleiht. Reinhardts Deutsches Theater hatte denn
walttat und hastigen Irrtum zu werden. In solcher Erregung
auch mit der Dichtung einen Erfolg, der mehr als ein Saison¬
stößt er, nachdem er die Diener himgeschickt, auf den nach
ereignis bedeutet. Das Szenische war mit großer Sorgfall
Delphi ziehenden König Laios, erschlägt im Streite den unbe¬
behandelt und befriedigte in dem Interieur des Schlosses nicht
kannten Dater und hastet im wilden Drange, die Heimat weit
nur die Maler, sondern auch die Archäologen. Kayßlers
hinter sich zu lassen, zu seiner wahren Geburtsstätte, wo das
Sprödigkeit wirkte in dem Oedipus vortrefflich, Moissi, ein
Verhängnis auf ihn lauert. Und dieses Verhängnis hat eine
Schauspieler, dessen undeutsches Wesen sonst befremdet, paßte
Stimme in einem ganz eigenartigen Chor, in den hetzenden,
gut für die gequälte Ari des Kreon, die Sorma, die in den
dröhnenden und pfeifenden Stürmen, in denen die Geister der
letzten Jahren öfter durch Uebertreibungen verstimmte, fand
Ahnen ihn umgeben. Die Exposition ist nach allen Seiten hin
als Jokaste ihre ganze entzückende Einfachheit und Innigkeit
von großer Stärke, ergreifend vor allem in der tragischen
wieder, und die in Berlin neu auftauchende bekannte Heroine
Ironie, deren Subjekt aber nicht wie in der Antike das Schick¬
Sandrock brachte zwar als Antiope ein etwas fremdes
sal ist, sondern die ganz und gar aus der Sophistik des zwie Pathos in das Ensemble, imponierte aber durch großen Stil.
spältigen Wesens hervorspringt.
Ueber Schnitzlers „Ruf des Lebens“, die letzte Neuheil
Auf der Höhe dieses Beginns vermag sich das Werk nicht
des Lessing=Theaters, kann ich mich kürzer fassen. Es
zu halten. Ueberladung mit Motiven und eine Reigung zum
ist ein Stück, das keinen Vorzug des feinen, geistvollen und
Quälerischen, die sich nicht genug tun kann, hemmen den Fort¬
wirksamen Wiener Antors verleugnet, aber die Vorzüge so
gang der Entwicklung. Während wir auf das Schicksal des
gegen einander streiten läßt, daß sie einander aufheben, also
Oedipus gespannt sind. wird der ganze nächste Akt, der in
zu dramatischen Gebrechen werden. Angelegt ist das Stück
Theben spielt, von Ureon beherrscht. Gewiß liegt hier eine
als ein Drama der spannenden Konflikte und zweifellos zeigt
an Shakespeare großgezogene künstlerische Absicht zugrunde.
der erste Akt wieder einmal, daß Schnitzler unter allen Ver¬
Der Gegenspieler soll den Helden nicht nur äußerlich heraus¬
tretern der heutigen „Wiener Schule“ die stärkste Gabe der
fordern, sondern auch ein starkes Seitenlicht auf seinen Charak¬
Erfindung besitzt. Die Fäden sind in der Exposition ungemein
ter werfen; daher ganz nach dem Vorbilde des großen Dra¬
kunstvoll gelegt. In die Stube eines bösartigen, siechen
matikers: verwandte Voraussetzungen, die als Folie für den
Greises, des alten Moser, den die in der häuslichen Sklaverei
Gegensatz der Tharaktere dienen. Auch Ureon ist von Jugend
dahinwelkende Tochter Marie mit Treue und doch ohne Liebe
an unter einen Fluch gestellt, über den er rastlos grübelt; aber
pflegt, dringen allgemach auf die natürlichste Art die Ereignisse
was den Andern zur Ueberhastung und Gewalttat hintreibt,
herein, die zu Untaten und tragischen Verwicklungen führen.
macht ihn feige und untätig; er ist der ewige Prätendent, der
Die Seele des gräßlichen Alten, der die Jugend des Mädchens
weder sich noch seinen Freunden traut, der unheimliche Tyrann
beneidet und beschimpft, ist die Feigheit; der Neunundsiebzig¬
einer Herrschgier, die sich im engen Kreise austobt. Möglich,
jährige hat den Tod schon vor dreißig Jahren (das Stück spielt
daß eine Szene des Sophokleischen Oedipus, in der der Held
in Oesterreich um Mitte des vorigen Jahrhunderts) mehr
den Schwager geheimer Prätendentenränke bezichtigt, und die
gefürchtet, als er seine Ehre liebte, er hat mit seiner Eskadron
Rolle des engherzigen Trrannen, die Ureon in der Antigone
einen Posten, den er nach einem Befehl behaupten sollte, in
spielt, diese Tharakteristik mit beeinflußt haben. Sie ist in einer
einer Wallung von Angst verlassen und dadurch das Unglück
Reihe von Szenen, in denen ein Magier zu Tod gequält und
einer Schlacht herbeigeführt. Jetzt vernimmt der längst in Un¬
ein Anabe zum Selbstmord getrieben wird, mit einer grellen
ehren verabschiedete Rittmeister davon, daß sein altes Regi¬
Unnst durchgeführt, aber ohne dramatische Oekonomie, sodaß
ment, das der blauen Kürassiere, die durch ihn einst verursachte
die Darallelgestalt vom Hauptmotio ablenkt und in ihrer
Schmach auf eine eigentümliche Art ausmerzen will; es hat
Widerwärtigkeit sich viel zu breit entfaltet. Eine große Szene
sich zu einem Todesritte in dem eben neu ausgebrochenen
im königlichen Frauengemach, wo des Laios Mutter, der der
Kriege erboten und der Kaiser hat dieses Opfer augenommen.
einem anderen Sagenkreise angehörige Name Antiope beige¬
Und dabei wiederum hat der Greis neben einer leisen Regung
legt wird, und die Witwe Jokaste wie gewalttätiger Ehrgeiz
der Scham doch nur die überwiegende freudige Empfindung,
und verhängnisvoll fügsame Demut gegen einander spielen,
daß er noch immer durch das Leben schleicht, während die
führt dann zum Hauptinteresse der Handlung zurück, die in
jungen Offiziere in den Tod reiten müssen. Aehr aber als er
einer Volksszene vor der Burg von Theben mächtig emporge¬
abnt, greift der Entschluß der blauen Kürassiere in das Schick¬
steigert wird. hier wird Jokastes Ergebung, ihr Entschluß,
sal seiner gequälten Pflegerin ein. Seine Tochter Marie hat
sich dem Retter der bedrohten Stadt willenlos in die Arme zu
lange ihre Sinnlichkeit und ihren Lebensdurst zurückgedrängt;
werfen, schön vermenschlicht und die allzu große Passivität als
der Hausarzt, der sie anbetet, und ein Forstadjunkt, der für
zweite Quelle der Tragik erschlossen. Das erste Zusammen¬
ihren Verlobten gilt und der um ihretwillen ihre schwindsüch¬
treffen zwischen dem als Erlöser begrüßten Oedipus mit der
tige Base verlassen hat, konnten sie nicht bewegen, sich auch
opferwilligen Königin spielt in allen Farben des Menschlichen,
nur zeitweilig von dem gräßlichen Dater zu trennen. Aber ein
die sich für die traditionelle Lebensanschauung in Schuld und
Offizier der blauen Kürassiere, den sie in einer Ausnahmsnacht
Unschuld brechen: erst die unbewußte Zärtlichkeit zwischen
auf einem Balle kennen lernte, hat eine furchtbare Gewalt
Mutter und Sohn, dann Wallungen der Erotik, über der
über ihre Sinne und ihre Einbildungskraft gewonnen. Lange
ahnungsvolle Schauer liegen und die die wehrlose Jokaste der
hat sie die Sehnsucht nach diesem Manne zurückgedrängt, aber
Ohnmacht überantworten, während sie den überstarken Oedi¬
nun da sie weiß, daß der dem Tode geweihte Offizier ihr nur
pus in einen Rausch der Wildheit versetzen. Hier ist wirklich
noch bis zum Alorgen erreichbar ist, und da jenes schwind¬
große Kunst, während der letzte Akt wieder durch Ueberkünste¬
süchtige Mlädchen, das den Rest des Lebens in Liebschaften
lung verdunkelt wird. Die Bezwingung der Sphiur durch die
vertolit, ihr Botschaft von der Sehnsucht des Todeskandidaten
Rätsellösung hat Hofmannsthal verschmäht, um ungelöste
bringt, löst sich die Spannung ihres Wesens in einem gewalt¬
Rätsel für sein Publikum an die Stelle zu setzen. Die bloße
samen Riß. Der gransame alte Kranke will sie nicht von der
Annäherung des Oedipus genügt, um den Sturz der Sphinx
Seite lassen, verschließt die Tür und steckt den Schlüssel ein.
in die Tiefe herbeizuführen. Das für das Interesse Wesent¬
Da bemächtigt sie sich in ihrer Verzweiflung eines vom Arzte
liche ist da wiederum episodisch behandelt, während das Rin¬
verschriebenen Beruhigungsmittels, bereitet daraus dem Alten
gen zwischen dem mordlustigen und energielosen Ureon und
einen Trank, der den „Schlaf von hundert Nächten in sich
dem durch seine Gottähnlichkeit gefeiten Oedipus fast die
birgt“, und flieht von der Leiche des Daters weg zu dem Ge¬
ganze Breite des letzten Aktes füllt.
liebten. Sie eilt von Mord zu Mord, von Leiche zu Leiche.
bin
ein