II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 173


19. Der Ruf es Lebens
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Der Roland von Berlin.
Theater.
Lessingtheater: Arthur Schnitzler, Der Ruf des Lebens. — Berliner Theater:
Gastspiel des Moskauer künstlerischen Theaters.
Arthur Schnitzler wird des Treibens müde. Im einsamen Weg, da einmal
die Rede ist vom Sterben, da heißt es: welcher anständige Mensch kann in
seinen stillsten Stunden an anderes denken? Und in seinen stillsten, in seinen
nachdenksamsten Stunden, in seinen einsamsten, da schreibt ein müder Wiener
ein Schauspiel; er nennt es den Ruf des Lebens, und singt dem Tode ein Lied.
Er nennt es den Ruf des Lebens, aber kein jauchzender, jubelnder, steigender
Hornruf kommt, kein blutfrohes Genießenwollen, Erhaschenwollen, Halten¬
wollen; ein trauriges Lied zittert daher, müde verdunkelnde Mollakkorde steigen,
ein letztes hektisches Auflodern; und jene, die dem Rufe folgen, es sind die
Totgeweihten einzig, die Späterwachten, die Frühmüden; jene, deren große,
starre Augen schon den Abglanz spiegeln der großen Leere; jene, deren lebende
Hände, im Sinken schen, ein einziges Mal nur wirklich sich entgegenklammern
dem Ziel ihrer Träume; jene, die trunken hineilen, einen einzigen, einen
letzten großen Rausch einzutauschen gen ein schlafwandelndes Nippen.
Sterbende allein sind es, die den Ruf des Lebens hören, wie er wachsend immer
forttönt, wild, sturmvoll und unendlich; Sterbende allein sind es, die das Leben
spüren, wenn es davongeht, langsam, kalt, unerbittlich, hin zur Jugend. Erst
der Tod ist es, der des Lebens Herrlichkeiten spät entschleiert, zu spät; der
Tod allein ist die Fläche, wo des Lebens schwellende Umrisse endlos sichtbar
werden; sichtbar und nie ergreifbar. Die Endlichkeit ist es, die das Sehnen
schafft nach Unendlichem .....
Tod und Leben ....; Dinge, die für sich nichts bedeuten, nichts sind;
Dinge, die erst aus ihrer Gegensätzlichkeit zu Werten wachsen; wo das eine
dem anderen erst das Licht gibt, und das andere dem einem den Schatten.
Was gälte uns das Leben, so nicht der Tod dahinterstände und drohte? ....
Zu den tiefsten Tiefen strebt Schnitzler; mit dem Lächeln der Resignation auf
den Lippen; mit der Unerbittlichkeit des Wahrheitssuchers; mit der beschau¬
lichen Ruhe des Fatalisten; mit der Hoffnung des Philosophen, der da strebt,
sich unsterblich zu machen, indem er alle Zusammenhänge zu erhaschen sucht,
gleichviel ob wahr, ob unwahr. Es geht hier nicht mehr allein um die Ge¬
staltung dieses Schicksals; oder um die Gestaltung jenes Schicksals. Was sind
Einzelschicksale in der Weltensymphonic? Winzige Noten, winzige Pausen,
vierundsechzigstel vielleicht; oder wenn es einmal hoch kommt, ein sechzehntel ...
Und es bleibt ein Wahrzeichen von Schnitzlers Werdegang, daß er ausstrebt
vom Einzelnen zur Gesamtheit, von Tag zur Unendlichkeit. Allüberall aber,
wo das Endliche sich stößt am Unendlichen, da liegt die Tragik. Was gelten
mir all die Menschen dieses Schauspieles, klänge nicht die ewige Sehnsucht
nach dem Leben erschütternd heraus aus jedem Atemzug dieser Daseinsopfer;
diese unvergeßliche, ewige Melodie, die alle uns begleitet? Alle taumeln
sie umher, wirr und dürstend, und tasten zur Lösung jenes Rätsels, das wir
Leben nennen. Was ist des Lebens Gipfel ...? Arthur Schnitzler gibt eine
Antwort, die aus seinem Munde melancholisch klingt und müde, weil sie alles