19. Der Ruf des Lebens
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Hermann Kienzl.
Ist es der Sinn des Lebens, daß der Lebende um jeden Preis, und wäre
es auch nur für einen Augenblick des Triumphes, über allen Jammer des Daseins
emporgehoben werde, so gibt diese Auffassung nicht minder dem rücksichtslosen
Egoisten Recht als dem Idealisten, der nicht über Leichen schreiten, der nur an
den Früchten seiner säenden Hand sich beglücken kann. Die Theorie der lebendigen
Stunde steht demnach wirklich jenseits von Gut und Böse, auf ihr baut sich
keine Sittlichkeit, wohl aber ein Recht, das noch über der sittlichen Pflicht steht
und das auch Grillparzer anerkannte: „Wer Sittlichkeit zum alleinigen Zweck der
Menschen macht, kommt mir vor wie Einer, der die Bestimmung einer Uhr da¬
rin fände, daß sie nicht falsch gehe. Das Erste bei der Uhr aber ist, daß sie
gehe. Wenn das Nichtfehlen das Höchste bei Uhren ist, so möchten die un¬
aufgezogenen die besten sein“.
Nun wenden wir aber einmal das Grillparzerische Gleichnis auf ein be¬
stimmtes Gebiet der Lebensäußerungen an; auf die dramatische Produktion.
Auch da scheint es mir die conditio sine qua non, daß die Uhren, die Erzeugnisse
des Dichter=Uhrmachers, überhaupt gehen, d. h. daß die Personen des Dramas
uns von ihrer Naturähnlichkeit vollkommen überzeugen; und erst, wenn alle
Räderchen laufen, sehen wir nach dem Zeiger.
Schnitzler ist ein Gestalter, das hat er mit den wunderbar echten Menschen
im Wiener Stück „Liebelei“, hat er im „Grünen Kakadu“, im „Schleier
der Beatrice“ und in manchem kleinen dramatischen Juwel bewiesen. Er ist unter
den weichen, sinnenden Wiener Poeten vielleicht der stärkste, sicher der kundigste
Gestalter. Fast möchte man beklagen, daß er so sehr auch denkender Kopf ist.
Eine Reihe seiner Dramen leidet unverkeunbar an der Blässe des Gedankens,
die nicht nur die frische Farbe zeugender Entschließung ankränkelt, auch sogar für
die fragliche Wahrheit des Theorems die innere Wahrheit der Geschöpfe opfert.
Seine scharfsichtige Beobachtung der Wirklichkeit schützt ihn nicht immer davor,
in der Konsequenz des dogmatischen Eifers bei der Abschilderung der Natur in¬
konsequent zu werden. Lebensfähige Embryonen werden auf solche Art gewisser¬
maßen wissenschaftlich getötet. Schon in den vier Einaktern „Lebendige Stunden“.
kam dieser Hang des Dichters, der nicht nur „bilden“, durchaus auch „reden“.
wollte, zur Geltung. Noch mehr in den doktrinären Schauspielen „Der einsame
Weg“ (das übrigens voll erlesener psychologischer Feinheiten ist) und „Zwischen¬
spiel“ — und am meisten in dem jüngsten Drama Schnitzlers „Der Ruf des
Lebens“, das am 24. Februar im Lessingtheater aufgeführt wurde.
In Wien und um die Mitte des 19. Jahrhunderts spielt das Stück. Von
der Revolution zittert nicht einmal ein Nachhall an die Fenster, diese alten und
jungen Wiener sind auch gar nicht Typen des Vor= und Nachmärz, kaum über¬
haupt Wienerische Typen, und die Wiener Kaserne stellt sich nicht literarisch
neben die preußische in „Rosenmontag“; seine Soldaten braucht der Dichter
nur für die Notbrücke der Fabel. Um nämlich die Scheidewand zwischen Leben
und Sterben möglichst dünn zu machen, müssen die „Blauen Kürassiere“ in den
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Hermann Kienzl.
Ist es der Sinn des Lebens, daß der Lebende um jeden Preis, und wäre
es auch nur für einen Augenblick des Triumphes, über allen Jammer des Daseins
emporgehoben werde, so gibt diese Auffassung nicht minder dem rücksichtslosen
Egoisten Recht als dem Idealisten, der nicht über Leichen schreiten, der nur an
den Früchten seiner säenden Hand sich beglücken kann. Die Theorie der lebendigen
Stunde steht demnach wirklich jenseits von Gut und Böse, auf ihr baut sich
keine Sittlichkeit, wohl aber ein Recht, das noch über der sittlichen Pflicht steht
und das auch Grillparzer anerkannte: „Wer Sittlichkeit zum alleinigen Zweck der
Menschen macht, kommt mir vor wie Einer, der die Bestimmung einer Uhr da¬
rin fände, daß sie nicht falsch gehe. Das Erste bei der Uhr aber ist, daß sie
gehe. Wenn das Nichtfehlen das Höchste bei Uhren ist, so möchten die un¬
aufgezogenen die besten sein“.
Nun wenden wir aber einmal das Grillparzerische Gleichnis auf ein be¬
stimmtes Gebiet der Lebensäußerungen an; auf die dramatische Produktion.
Auch da scheint es mir die conditio sine qua non, daß die Uhren, die Erzeugnisse
des Dichter=Uhrmachers, überhaupt gehen, d. h. daß die Personen des Dramas
uns von ihrer Naturähnlichkeit vollkommen überzeugen; und erst, wenn alle
Räderchen laufen, sehen wir nach dem Zeiger.
Schnitzler ist ein Gestalter, das hat er mit den wunderbar echten Menschen
im Wiener Stück „Liebelei“, hat er im „Grünen Kakadu“, im „Schleier
der Beatrice“ und in manchem kleinen dramatischen Juwel bewiesen. Er ist unter
den weichen, sinnenden Wiener Poeten vielleicht der stärkste, sicher der kundigste
Gestalter. Fast möchte man beklagen, daß er so sehr auch denkender Kopf ist.
Eine Reihe seiner Dramen leidet unverkeunbar an der Blässe des Gedankens,
die nicht nur die frische Farbe zeugender Entschließung ankränkelt, auch sogar für
die fragliche Wahrheit des Theorems die innere Wahrheit der Geschöpfe opfert.
Seine scharfsichtige Beobachtung der Wirklichkeit schützt ihn nicht immer davor,
in der Konsequenz des dogmatischen Eifers bei der Abschilderung der Natur in¬
konsequent zu werden. Lebensfähige Embryonen werden auf solche Art gewisser¬
maßen wissenschaftlich getötet. Schon in den vier Einaktern „Lebendige Stunden“.
kam dieser Hang des Dichters, der nicht nur „bilden“, durchaus auch „reden“.
wollte, zur Geltung. Noch mehr in den doktrinären Schauspielen „Der einsame
Weg“ (das übrigens voll erlesener psychologischer Feinheiten ist) und „Zwischen¬
spiel“ — und am meisten in dem jüngsten Drama Schnitzlers „Der Ruf des
Lebens“, das am 24. Februar im Lessingtheater aufgeführt wurde.
In Wien und um die Mitte des 19. Jahrhunderts spielt das Stück. Von
der Revolution zittert nicht einmal ein Nachhall an die Fenster, diese alten und
jungen Wiener sind auch gar nicht Typen des Vor= und Nachmärz, kaum über¬
haupt Wienerische Typen, und die Wiener Kaserne stellt sich nicht literarisch
neben die preußische in „Rosenmontag“; seine Soldaten braucht der Dichter
nur für die Notbrücke der Fabel. Um nämlich die Scheidewand zwischen Leben
und Sterben möglichst dünn zu machen, müssen die „Blauen Kürassiere“ in den
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