II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 184

19. Der Ruf des Lebens
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„Der Ruf des Lebens“.
Von
Hermann Kienzl.
Die nicht ganz lautere Lebenslust der Phäaken flackert aus allen Werken des
nachdenklichsten der Jung=Wiener Dichter. In Arthur Schnitzlers ersten kleinen
Dramen, den „Anatol“: Skizzen (Maupassantscher Geist in wienerischer Fassung)
brannte sie noch sorglos, im Leichtsinn des jungen Blutes, in das nur einige
schwere Tropfen gemischt waren. Eine Bejahung des Daseins, jenseits von Gut
und Böse, jedenfalls jenseits von „Gut“ nach allen herkömmlichen Begriffen des
Worts. Im Spätherbst entzünden die Bauern auf ihren Ackern an zusammen¬
gescharten halbfaulen Stoppeln stark rauchende Feuer; die Asche macht den Boden
fruchtbar. Aus einem Erdreich, bedeckt mit verkohlten Resten des Genusses,
wuchs Schnitzlers gesegnete Frühlingssaat, die „Liebelei“. Eine Tragödie des
Wiener Leichtsinns, die Tragödie junger Leute, die zu spät erkennen, daß sie am
Leben vorübergegangen sind. Und in allen späteren Werken des hochbegabten
Dichters finden wir in den mannigfaltigsten Variationen der Gestaltung immer
wieder die beiden Grundelemente seines Denkens und Fühlens: das Leben selbst
ist des Lebens höchstes Ziel — so lautet das eine Motiv; das zweite ist eine
Frage: was ist das Leben? Oft nur eine einzige „lebendige Stunde“, in die das
Schicksal alles zusammenpreßt, was es dem schleichenden Alltag der Erwartung
versagte. Diese Stunde kann eine Erfüllung sein, sie kann der versöhnende Tod
sein, sie kann auch eine bloße Täuschung sein, ein vergänglicher Rausch, der doch
mit keiner Ernüchterung, auch nicht mit einer Missetat zu teuer bezahlt wäre.
Verschieden wie die Menschen, sind ihre lebendigen Stunden, aber keiner hat ge¬
lebt, dem solche Stunde niemals schlug.
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