II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 189

19. Der Ruf des Lebens
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Hermann Kienzl.
Das sind aber nur — Worte. Der Dichter steht, nicht seine Personen
stehen an der Pforte zur neuen Anschauung des Lebens. Was soll es uns viel
bedeuten, daß den sicheren Tatsachenbeweisen der Vergangenheit vage Hoffnungen
der Zukunft entgegengesetzt werden? Gerade in diesem Schauspiele unterliegen
die Menschen unbedingt jenem debenstriebe, der sie zwingt, für die Sensation
ihrer sogenannten Gipfelstunde Dasein und Ehre hinzuwerfen. Allerdings soll
beachtet sein, daß Schnitzler das Schauspiel nicht in den lebendigen Stunden
gipfeln läßt, daß er (wie übrigens schon in der „Liebelei“) den Wert der höchsten
Augenblicke skeptisch entzaubert und ihnen einen Schlußakt folgen läßt, als
veritablen Katzenjammer der Moral auf den verbrecherischen Rausch der Illusion.
In dem Schlußakt wird manches in Gäte verstehende Wort gesprochen, aber er
ist undramatisch und konstruirt, und Worte sind doch nur Pflastersteine, die für
den neuen Weg erst verwendet werden könnten, wenn dieser überhaupt gefunden
wäre. Die Absicht des Verafssers ist mir ja nicht unklar: An die Stelle der
rächenden Nemesis will er die befreiende Erkenntnis setzen. Das Unglück düsterer
Stunden wiegt schon für sich allein genug, so meint sein milder Sinn, und es
gewährt — so bekämpft er die überkommene Relation von Schuld und Strafe —
ein Anrecht auf hellere Tage. Schnitzler sucht auf diese Weise nach einem Gleich¬
gewichte im menschlichen Leben, von dem er meint, daß wir es nach dem Zwange
unserer Natur mehr erleben als lebend selbst gestalten. Man entnimmt diese
Meinungen leider nicht einem charakteristischen Schicksal und Umwandlungsprozeß
der Hauptpersonen, vielmehr nur den essayistischen Reden des Chorus Dr. Schind¬
ler: „Gut? Ich? — Ja, so wie Sie eine Sünderin sind. Und wie diese Ent¬
schwundene eine Sünderin gewesen .... Worte! Ihnen scheint die Sonne
noch, und mir — und denen (weist auf die Kinder, die eben über die Wiese
laufen). Der da (der verstorbenen Freundin) nicht mehr. Ich weiß nichts
anderes auf Erden, das gewiß wäre.“ — Jenseits von Gut und Böse. Aber —
„Worte“! Und Worte allein illustrieren Nietzsche nicht. Sehen müßten wir,
wie sich unter dem Gesetz des Lebens das Tüchtige und Gesunde zu besserer Zu¬
kunft verbindet.
Und dieser Vorwurf ist gegen das Schauspiel Schnitzlers überhaupt zu er¬
heben: Es illustriert seine Absichten nicht, es erfüllt sie nicht, es setzt sie nicht
in Fleisch und Bein um. Wäre er doch der naive Schöpfer der „Liebelei“.
geblieben! Vom Baume, der seines Zweckes unbewußt wuchs und blühte, wollen
wir die Früchte pflücken. Der „Ruf des Lebens“ ist ein Treibhausgewächs, und
nur an einigen vollwertigen Szenen erkennen wir die meisterliche Hand des
Gärtners.
Immerhin trägt auch dieses konstruierte Drama, dem an vielen Stellen eine
bei Schnitzler ungewohnte papierene Diktion zur Last fällt, Spuren schöpferischer
Begabung, die das Interesse an den merkwürdigen Irrtümern des Dramatikers
rechtfertigen. Auch diese Irrtümer geben noch mannigfaltige Anregung. Es läßt
sich das Urteil in dem Beklagen zusammenfassen, daß der Dichter es nicht seinem
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