19. Der Ruf des Lebens
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Der Ruf des Lebens.
Publikum überlassen habe, von den lebendigen Dingen die theoretischen Meinungen
abzuleiten, er vielmehr selbst nach vorgefaßten Meinungen Menschen zu bilden
suchte. Den Zusammenhang der Einzelerscheinungen mit den großen Organismen
aufzufinden, ist eines Dichters rechter Wunsch; in dieser Richtung aber ist Schnitzler
diesmal von Wunsch und Begabung irre geführt worden, und wir denken an
Goethes Wort: „Wie spät lernen wir einsehen, daß wir, indem wir unsere Tugenden
ausbilden, unsere Fehler zugleich mit anbauen.“
Es stand auch nicht gerade der beste Stern des Lessingtheaters über
seinem Hausdichter. Die Dekorationen allerdings belehrten mit ihrem intimen
Reiz, daß die Inszene zwischen bescheidenen und großen Ansprüchen nicht unter¬
scheiden dürfe. Auch ein einfaches Zimmer verlangt seine besondere Atmosphäre,
seinen besonderen Maler. Der hatte hier vortrefflich vorgesorgt. Nur machte
die Höhle des alten Rittmeisters einen zu soignierten Eindruck. Sie sollte die
Runzeln seines bösen Gesichtes spiegeln. Dagegen hatte das Kasernenzimmer
mit dem Ausblick durchs Fenster auf den nächtlichen Kasernenhof und dessen
Umfriedung vollen Stimmungsgehalt und nicht minder die freundliche Früylings¬
landschaft am Fuße der Raxalpe. Das lebende Material hatte es schwerer in
dem scheinlebendigen Stücke. Irene Triesch war die Aufgabe gestellt, Mord und
Liebe in sich zu vermählen. Ihren ekstatischen Affekten gelang das einigermaßen.
Aber es rollte immer nur heißes Blut in ihren Adern, nicht das warme schöner
Menschlichkeit, das sie freilich ziemlich auf eigene Unkosten Schnitzlers Marie
hätte einflößen müssen. Mit seinem immer sicheren Griffel warf Bassermann
die Figur des Obersten hin, den er im Verhaltenen (während des unheimlichen
Gesprächs mit dem Leutnant) so vielsagend machte, daß der Mann von des
Schauspielers Gnaden noch interessant blieb, als der Knalleffekt die feineren
Konturen zerriß. In treuer Widerwärtigkeit gab Hans Marr den bitteren
Vater. Um eines einzigen prachtvollen Mutterschreis willen war Else Lehmann
und dem Dichter eine „Frau Richter“ zu verzeihen. Mit milder Klarheit fand
sich Reicher in die gewohnte Chorus=Rolle. Die Episodisten, darunter der Leut¬
nant Karl Stielers, ererzierten nach des Dichters Wunsch — bis auf zwei, die
das Ensemble störten: Rudolf Rittner, der offensichtlich nicht wollte, und ein
Fräulein Hofmann, das offensichtlich nicht konnte.
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Der Ruf des Lebens.
Publikum überlassen habe, von den lebendigen Dingen die theoretischen Meinungen
abzuleiten, er vielmehr selbst nach vorgefaßten Meinungen Menschen zu bilden
suchte. Den Zusammenhang der Einzelerscheinungen mit den großen Organismen
aufzufinden, ist eines Dichters rechter Wunsch; in dieser Richtung aber ist Schnitzler
diesmal von Wunsch und Begabung irre geführt worden, und wir denken an
Goethes Wort: „Wie spät lernen wir einsehen, daß wir, indem wir unsere Tugenden
ausbilden, unsere Fehler zugleich mit anbauen.“
Es stand auch nicht gerade der beste Stern des Lessingtheaters über
seinem Hausdichter. Die Dekorationen allerdings belehrten mit ihrem intimen
Reiz, daß die Inszene zwischen bescheidenen und großen Ansprüchen nicht unter¬
scheiden dürfe. Auch ein einfaches Zimmer verlangt seine besondere Atmosphäre,
seinen besonderen Maler. Der hatte hier vortrefflich vorgesorgt. Nur machte
die Höhle des alten Rittmeisters einen zu soignierten Eindruck. Sie sollte die
Runzeln seines bösen Gesichtes spiegeln. Dagegen hatte das Kasernenzimmer
mit dem Ausblick durchs Fenster auf den nächtlichen Kasernenhof und dessen
Umfriedung vollen Stimmungsgehalt und nicht minder die freundliche Früylings¬
landschaft am Fuße der Raxalpe. Das lebende Material hatte es schwerer in
dem scheinlebendigen Stücke. Irene Triesch war die Aufgabe gestellt, Mord und
Liebe in sich zu vermählen. Ihren ekstatischen Affekten gelang das einigermaßen.
Aber es rollte immer nur heißes Blut in ihren Adern, nicht das warme schöner
Menschlichkeit, das sie freilich ziemlich auf eigene Unkosten Schnitzlers Marie
hätte einflößen müssen. Mit seinem immer sicheren Griffel warf Bassermann
die Figur des Obersten hin, den er im Verhaltenen (während des unheimlichen
Gesprächs mit dem Leutnant) so vielsagend machte, daß der Mann von des
Schauspielers Gnaden noch interessant blieb, als der Knalleffekt die feineren
Konturen zerriß. In treuer Widerwärtigkeit gab Hans Marr den bitteren
Vater. Um eines einzigen prachtvollen Mutterschreis willen war Else Lehmann
und dem Dichter eine „Frau Richter“ zu verzeihen. Mit milder Klarheit fand
sich Reicher in die gewohnte Chorus=Rolle. Die Episodisten, darunter der Leut¬
nant Karl Stielers, ererzierten nach des Dichters Wunsch — bis auf zwei, die
das Ensemble störten: Rudolf Rittner, der offensichtlich nicht wollte, und ein
Fräulein Hofmann, das offensichtlich nicht konnte.
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