II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 194

19. Der Ruf des Lebens
nigfach bewegten Hintergrunde die
politischen und häuslichen Wirren
unter dem letzten Rurik=Sprossen, bald
nach Iwans des Schrecklichen Tode,
schildert, ein farbenreiches Gemälde
aus ihrer vaterländischen Geschichte
und aus ihrem heimischen, damals
noch völlig ungebrochenen Volkstum
zu entwerfen, wie sie gleich darauf
das Tschechowsche Stück in den Stand
setzte, uns ein mit intimster Be¬
obachtungsgabe erfaßtes Bild aus
dem russischen Land= und Gesell¬
schaftsleben der so ganz anders ge¬
arteten Gegenwart vor Augen zu.
führen. Ein Feld, weit und offen
genug, um all ihre Inszenierungs¬
künste zu entfalten und diese mit den
unsern sich messen zu lassen. Was
sie dabei an stil=, zeit= und stim¬
mungsgerechter Ausstattung gezeigt
haben, besteht auch vor unserer heute
aufs äußerste geschärften Kritik in
allen Ehren — aber zu erröten
brauchen unsre besten Regisseure vor
den russischen Leistungen in dieser
Beziehung nicht. Selbstverständlich
bringen die Gäste für die russische
Landschaft, für die byzantinische Ar¬
chitektur und Ausstattung des Zaren¬
palastes, für die Geräte und die
Kostüme manches aus ihrer Heimat
mit, was bei uns — sagen wir in
Aufführungen des Schillerschen „De¬
metrius“ oder des Erlerschen „Zaren
Peter“ — nicht so echt und natur¬
getreu gezeigt werden kann; selbst¬
verständlich auch weht uns aus ihrem
„Onkel Wanja“ ein ungleich vollerer
und kräftigerer Hauch der russischen
Gegenwartskultur entgegen, als ihn
uns etwa die noch dazu recht mittel¬
mäßige Aufführung desselben Stückes
am früheren Berliner Theater zu
vermitteln vermochte. Aber die ein¬
geborene Stimmung eines Bühnen¬
werkes, seine malerisch=musikalischen
Werte, kurz gesagt: die innere Melo¬
die einer dramatischen Dichtung hat
uns die Reinhardtsche Regiekunst und
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früher, zu Zeiten des Naturalismus,
auch die Brahmssche im Deutschen
Theater ebenso rein und getreu
widergespiegelt. Man denke an das
„Friedensfest“ und den „Fuhrmann
Henschel“ bei Brahms, an den „Som¬
mernachtstraum“ und den „Kauf¬
mann von Venedig“ bei Reinhardt!
Ja, wir dürfen, ohne uns natio¬
nalistisch zu überheben, getrost sagen,
daß wir über den Stand der Mo“
kauer Regie, soweit damit die Be¬
handlung des äußeren Bühnenbild¬
des gemeint ist, um eine Stufe em¬
porgekommen sind. Den harten Zu¬
sammenstoß plastischer und beweg¬
licher Naturgegenstände (die Bäume
im „Sommernachtstraum“!) mit ge¬
malten Requisiten, wie das russische
Zarendrama ihn mehrmals und wie
ihn einmal auch das Tschechowsche
Stück zeigte, haben wir heute über¬
wunden; unsere Behandlung des Hin¬
tergrundes weiß freiere und lichtere
Durch= und Ausblicke zu schaffen; un¬
sere Ueberwindung der Beleuchtungs¬
schwierigkeiten und der niederträch¬
tigen Luftsoffiten hat Fortschritte ge¬
macht, mit denen sich die russische
Technik nicht messen kann. Soviel
zur Steuer der Gerechtigkeit einer
Tugend, die der Deutsche ja niemals
leichter vernachlässigt, als wenn es
sich um die Würdigung heimischer
Verdienste handelt.
Nun aber zum Spiel, zum Einzel¬
spiel und zum Zusammenspiel. Hier
sind uns die Russen — immer vor¬
ausgesetzt, daß ihre künstlerische Büh¬
nenentwicklung mit der unsrigen pa¬
rallel läuft; sonst kann uns die
ganze Vergleichung nichts nützen!
in jeder Beziehung um ein beträcht¬
liches überlegen. Der russische Schau¬
spieler, so versicherten uns die Ken¬
ner der russischen Bühnen, ist der
naturalistischste Schauspieler der Welt.
Das war nun doch eine halbe oder
zum mindesten eine schiefe Wahrheit.
Er ist nicht der naturalistischste, son¬
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