II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 193

19. Der Ruf des Lebens
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tasie und der Energie seines drama¬
tischen Ausdrucks, aber sofort legt
sich über diesen rein ästhetischen
Kunstgenuß wie ertötender Rauhreif
die Frage: sind das noch fühlende
Menschen oder sind es nur noch
Trieb= und Sinnentiere, die von den
noch warmen Leichen eines Vaters und
einer Geliebten weg flugs ins Hoch¬
zeitsbette steigen können? ... Im¬
merhin, ich kann mir eine tragische
Größe und Rücksichtslosigkeit denken,
die auch darüber hinweg zu einem
Gipfel der Rechtfertigung und Sühne
schritte. Statt dessen — was tut der
letzte Akt? Er sammelt mühsam und
greinend die Brosamen der Entschul¬
digung und der Resignation: „Sie
leben, Marie ... und es war ..
Auch seit jener Nacht und seit jenem
Morgen fliehen die Tage und Nächte
weiter für sie hin. Auch daß Sie
über Feld und Wiesen spazieren gehen,
daß Sie Blumen pflücken, daß Sie
hier mit uns reden unter dem leuch¬
tenden Mittagshimmel, ist Leben. Nicht
minder als es jene Nacht gewesen ist,
da es Sie aus verstörter Jugend nach
dunkeln Abenteuern lockte, die Ihnen
heute noch als Ihres Daseins letzter
Sinn erscheinen. Und wer weiß, ob
Ihnen nicht später — viel später ein¬
mal aus einem Tag wie der heutige
der Ruf des Lebens viel reiner und
tiefer in die Seele klingen wird, als
aus jenem andern, an dem Sie
Dinge erlebt haben, die so furchtbare
und glühende Namen tragen wie
Mord und Liebe.“ Gewiß ließen sich
auch an dieser Dichtung Schnitzlers,
zumal mit Hilfe der Buchausgabe
(Berlin, S. Fischer), viele Feinheiten
der Psychologie und der Charakeristik,
viele nicht bloß geistreiche, sondern
auch tiefsinnige Lebensweisheiten auf¬
decken, aber man fragt sich billiger¬
weise, ob das von irgend einem Be¬
lang sein kann für die Wertung
eines Werkes, dessen sittliche Grund¬
begriffe so im Dunkeln tappen oder
2e
in die Irre gegangen sind, wie die
im „Ruf des Lebens“. —
Ueber Schauspielkunst wird an die¬
ser Stelle für gewöhnlich nur dann
gesprochen, wenn ihre Aeußerungen
grundsätzliche Fragen von Bedeutung
aufwerfen. Das ist nun bei dem
Gastspiel, das vor kurzem die Gesell¬
schaft des Moskauer Künstle¬
rischen Theaters in Berlin er¬
öffnet hat, zweifellos der Fall. Schon
weil diese einem fremden, halb orien¬
talischen Lande und einer ganz anders
gearteten Rasse entstammende Kunst
interessante Vergleiche mit den gegen¬
wärtigen Strömungen und Bemühun¬
gen unserer heimischen Bühnenkunst
anregt, wie wir sie — um nur das
hervorstechendste Beispiel heranzu¬
ziehen — namentlich unter den Rein¬
hardtschen Regie hervortreten sehen.
Heute, wo diese Zeilen zum Satz
gehen müssen, ist erst die kleinere
Hälfte des russischen Spielplanes er¬
füllt; aber da auch in diesem Teile
bereits beide dramatische Stilarten
vertreten sind, der klassisch=heroische
in des Grafen Alexej Tolstoj Ge¬
schichtsdrama „Zar Feodor Joanno¬
witsch“, der modern=realistische in An¬
ton Tschechows „Onkel Wanja“
so werden sich, hoffe ich, die daraus
geschöpften Urteile auch noch den ge¬
samten Darbietungen gegenüber stich¬
haltig zeigen. Immerhin wird noch
ein kritischer Rückblick auf das Ganze
folgen müssen.
Was bei diesem Moskauer Gast¬
spiel unsere höchste Bewunderung her¬
ausfordert, ist nicht sowohl die Regie
im engeren und sachlicheren Sinn,
also die Behandlung des Bühnen¬
mechanismus und der Bühnenbilder,
mit einem Wyrt die „Ausstattung“,
als vielmehr das Einzel= und das
Zusammenspiel, die schauspielerische
Darstellung. Die Russen haben Ge¬
legenheit gehabt, uns in dem Mittel¬
drama der Tolstojschen Trilogie, das
auf einem breiten, bunten und man¬
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