19. Der Ruf des Lebens
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Die Berliner Theater.
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Haus seit der Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts soloohl in
Hinsicht seines schauspielerischen Personals wie seines Repertoires befindet, ist es in
keine frischere und kräftigere Bewegung eingetreten, und die Hoffnungen, die man
auf den neuen Intendanten setzte, haben sich nicht erfüllt. Es kann von einem Hof¬
theater nicht gefordert werden, daß es mit seinen Darbietungen immer an der Spitze
des Allerneuesten steht. Nicht nur seine Beziehungen zu seinem Patron und seine
Traditionen, sondern auch die Verantwortung, die es dem Volke gegenüber als eine
künstlerische Bildungsstätte von ungleich größerer Bedeutung als die Museen gat,
verbieten ihm, seine Pforte wahllos jeder Neuerung in der Dichtung oder der
theatralischen Darstellung zu öffnen. Dem Dichter mag erlaubt sein, was ihm
gefällt, aber das Schauspielhaus hat Rücksichten auf die Erziehung der Zuschauer
zum Schönen, auf die gute Sitte, den Anstand und den edleren Geschmack zu
nehmen, es darf nicht zum Versuchsfeld einer sogenannten freien Bühne erniedrigt
werden. Auch würde ihm sehr bald das Publikum für den Versuch fehlen. In
Berlin gibt es so viele Privattheater, die jeder neuen Richtung, sobald sie mit dem
nötigen Selbstbewußtsein der Unfehlbarkeit auftritt, bereitwillig dienen, daß der
dichterischen Produktion dadurch kein Schaden geschieht, wenn sich ihr das Hoftheater
spröde verschließt. Allein diese Sprödigkeit muß ihre Grenze haben, sie darf nicht zur
Ausschließlichkeit erstarren. Denn keine Bühne kann von ihren Traditionen, von
den Aufführungen klassischer Dramen und alter Lustspiele auf die Dauer leben; sie
bedarf der Luft ihrer Zeit und der neuen Bildungselemente. Betrachtet man, wie
gering in dem Repertoire des Schauspielhauses die moderne Dichtung vertreten ist,
so wird die Teilnahmlosigkeit des Publikums ihm gegenüber begreiflich. Nur die
munteren Komödien Oskar Blumenthals erscheinen häufiger; von Wildenbruch sind
die Dramen: „Die Tochter des Erasmus“ (1900) und „Kinig Laurin“ (1902),
von Ludwig Fulda „Herostrat“ (1898) und „Schlaraffenland“ (1899), von Gerhart
Hauptmann „Hannele“ (1893) zur Aufführung gelangt. Von Hermann Sudermanns
Stücken hat keins die Schwelle des Schauspielhauses überschritten, obgleich Schau¬
spiele wie „Heimat“ und „Das Glück im Winkel“ eigentlich ein Anrecht an eine Bühne
gehabt hätten, deren Bedeutung und Stolz dreißig Jahre lang, unter der Leitung
Bothos von Hülsen, in der Darstellung des bürgerlichen Schauspiels lag. Was sonst
das Schauspielhaus von Neuigkeiten aufführte, war meist so minderwertig, daß es
schon nach wenigen Vorstellungen von den Brettern verschwand, so in dieser Spiel¬
zeit Dietrich Eckardts romantische Komödie in drei Akten „Der Froschkönig“
(Sonnabend, den 25. November 1905) und das Drama in drei Akten
„Venus Amathusia“, von Max Dreyer (Sonnabend, den 16. De¬
zember 1905). Seit dem Rücktritt Otto Devrients im Dezember 1900 von der
Leitung des Schauspielhauses war der Oberregisseur Max Grube die entscheidende
künstlerische Persönlichkeit. Graf Hochbergs Interesse gehörte fast ausschließlich der
Oper; er überließ, als er nach dem Tode Bothos von Hülsen im Oktober 1886 von
Kaiser Wilhelm I. zum Intendanten der königlichen Schauspiele ernannt worden
war, das Schauspielhaus nacheinander den Regisseuren Deetz, Anno, Otto Devrient
und zuletzt am längsten und verhängnisvollsten Max Grube. Das Berliner Publikum
hat Grube zuerst im Ensemble der Meininger kennen gelernt: er spielte in Schillers
„Jungfrau von Orleans“ im März 1887 den Talbot und trat im Herbst desselben
Jahres zum Schauspielhause über. Richard III. war, wenn ich mich nicht irre, seine
erste Rolle auf unsrer Hofbühne. Grube ist ein Mann von vielseitigen Kenntnissen
und einer leidenschaftlichen Liebe zum Theater. In seinen Anfängen auf der Hof¬
bühne von 1887—1893 habe ich Gelegenheit gehabt, ihn in den verschiedensten
Rollen zu sehen. Seine eigentliche schauspielerische Bedeutung lag in der Darstellung
des Grotesken; Shakespeares Caliban im „Sturm“ den er 1890 zum ersten Male
spielte, ist mir in der Einnerung als seine originalste Leistung geblieben. Das
Verhängnis für seine Leitung des Schauspielhauses war weniger die Unentschlossenheit
und Unsicherheit seines künstlerischen Urteils als sein Ehrgeiz, sich als Schauspieler
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Die Berliner Theater.
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Haus seit der Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts soloohl in
Hinsicht seines schauspielerischen Personals wie seines Repertoires befindet, ist es in
keine frischere und kräftigere Bewegung eingetreten, und die Hoffnungen, die man
auf den neuen Intendanten setzte, haben sich nicht erfüllt. Es kann von einem Hof¬
theater nicht gefordert werden, daß es mit seinen Darbietungen immer an der Spitze
des Allerneuesten steht. Nicht nur seine Beziehungen zu seinem Patron und seine
Traditionen, sondern auch die Verantwortung, die es dem Volke gegenüber als eine
künstlerische Bildungsstätte von ungleich größerer Bedeutung als die Museen gat,
verbieten ihm, seine Pforte wahllos jeder Neuerung in der Dichtung oder der
theatralischen Darstellung zu öffnen. Dem Dichter mag erlaubt sein, was ihm
gefällt, aber das Schauspielhaus hat Rücksichten auf die Erziehung der Zuschauer
zum Schönen, auf die gute Sitte, den Anstand und den edleren Geschmack zu
nehmen, es darf nicht zum Versuchsfeld einer sogenannten freien Bühne erniedrigt
werden. Auch würde ihm sehr bald das Publikum für den Versuch fehlen. In
Berlin gibt es so viele Privattheater, die jeder neuen Richtung, sobald sie mit dem
nötigen Selbstbewußtsein der Unfehlbarkeit auftritt, bereitwillig dienen, daß der
dichterischen Produktion dadurch kein Schaden geschieht, wenn sich ihr das Hoftheater
spröde verschließt. Allein diese Sprödigkeit muß ihre Grenze haben, sie darf nicht zur
Ausschließlichkeit erstarren. Denn keine Bühne kann von ihren Traditionen, von
den Aufführungen klassischer Dramen und alter Lustspiele auf die Dauer leben; sie
bedarf der Luft ihrer Zeit und der neuen Bildungselemente. Betrachtet man, wie
gering in dem Repertoire des Schauspielhauses die moderne Dichtung vertreten ist,
so wird die Teilnahmlosigkeit des Publikums ihm gegenüber begreiflich. Nur die
munteren Komödien Oskar Blumenthals erscheinen häufiger; von Wildenbruch sind
die Dramen: „Die Tochter des Erasmus“ (1900) und „Kinig Laurin“ (1902),
von Ludwig Fulda „Herostrat“ (1898) und „Schlaraffenland“ (1899), von Gerhart
Hauptmann „Hannele“ (1893) zur Aufführung gelangt. Von Hermann Sudermanns
Stücken hat keins die Schwelle des Schauspielhauses überschritten, obgleich Schau¬
spiele wie „Heimat“ und „Das Glück im Winkel“ eigentlich ein Anrecht an eine Bühne
gehabt hätten, deren Bedeutung und Stolz dreißig Jahre lang, unter der Leitung
Bothos von Hülsen, in der Darstellung des bürgerlichen Schauspiels lag. Was sonst
das Schauspielhaus von Neuigkeiten aufführte, war meist so minderwertig, daß es
schon nach wenigen Vorstellungen von den Brettern verschwand, so in dieser Spiel¬
zeit Dietrich Eckardts romantische Komödie in drei Akten „Der Froschkönig“
(Sonnabend, den 25. November 1905) und das Drama in drei Akten
„Venus Amathusia“, von Max Dreyer (Sonnabend, den 16. De¬
zember 1905). Seit dem Rücktritt Otto Devrients im Dezember 1900 von der
Leitung des Schauspielhauses war der Oberregisseur Max Grube die entscheidende
künstlerische Persönlichkeit. Graf Hochbergs Interesse gehörte fast ausschließlich der
Oper; er überließ, als er nach dem Tode Bothos von Hülsen im Oktober 1886 von
Kaiser Wilhelm I. zum Intendanten der königlichen Schauspiele ernannt worden
war, das Schauspielhaus nacheinander den Regisseuren Deetz, Anno, Otto Devrient
und zuletzt am längsten und verhängnisvollsten Max Grube. Das Berliner Publikum
hat Grube zuerst im Ensemble der Meininger kennen gelernt: er spielte in Schillers
„Jungfrau von Orleans“ im März 1887 den Talbot und trat im Herbst desselben
Jahres zum Schauspielhause über. Richard III. war, wenn ich mich nicht irre, seine
erste Rolle auf unsrer Hofbühne. Grube ist ein Mann von vielseitigen Kenntnissen
und einer leidenschaftlichen Liebe zum Theater. In seinen Anfängen auf der Hof¬
bühne von 1887—1893 habe ich Gelegenheit gehabt, ihn in den verschiedensten
Rollen zu sehen. Seine eigentliche schauspielerische Bedeutung lag in der Darstellung
des Grotesken; Shakespeares Caliban im „Sturm“ den er 1890 zum ersten Male
spielte, ist mir in der Einnerung als seine originalste Leistung geblieben. Das
Verhängnis für seine Leitung des Schauspielhauses war weniger die Unentschlossenheit
und Unsicherheit seines künstlerischen Urteils als sein Ehrgeiz, sich als Schauspieler
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