II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 199

19. Der Ruf des Lebens
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Die Berliner Theater.

Berlin, 7. April 1906.
Die diesmalige Spielzeit der Berliner Theater seit dem Anfang September 1905
gehört trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Darbietungen in literarischer Hinsicht zu den
unergiebigsten und unerfreulichsten. Theatralisch hat sie wenigstens mit dem Gast¬
spiel des Moskauer Theaters in dem Berliner Theater während des Monats März
1906 einen Erfolg zu verzeichnen: das deutsche Publikum wurde dadurch mit der
Kunst und der Bühneneinrichtung einer hoch entwickelten russischen Schauspieler¬
=gesellschaft bekannt, die in der Inszenierung der Stücke und in dem Zusammenspiel
hei weitem alles übertraf, was wir bisher von italienischen, französischen, englischen
(und holländischen Gesellschaften gesehen hatten. Unsre eigene dramatische und schau¬
spielerische Kunst ist dagegen im Vergleich zu ihrem Reichtum und ihrer Blüte
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während der neunziger Jahre zum Stillstand gekommen; die Dichter und die Schau¬
spieler atmen langsamer und schwerer; der Nachwuchs ist ganz ausgeblieben. Denn
die Klage, daß wirkliche dramatische Talente nicht auf die Bühne gelangen könnten,

weil die Leiter der Theater sich allen Erstlingsarbeiten gegenüber ablehnend ver¬
hielten, ist heute bei dem Wettkampf so vieler Theater um ihre Existenz noch gegenstands¬
loser geworden, als sie es schon früher war. Wer auch nur einen flüchtigen Blick
in ein und ein andres Dutzend sogenannter Buchdramen wirft oder von dem Resultat
gelegentlicher dramatischer Preisbewerbungen Notiz nimmt, merkt bald, daß die
Bühnen Berlins das Brauchbare sehr wohl von der Spreu zu unterscheiden wissen.
So wagemutig, wie sie die Dichter gern wünschten, können sie beim besten Willen
nicht sein; ein Spatz von Gerhart Hauptmann ist ihnen lieber als eine Taube, die
ihnen ein neuer Ankömmling verspricht; denn der Spatz hat unter allen Umständen
sein Publikum, die Taube soll sich erst eins gewinnen. Und dies ist um so
schwerer, je mehr dem Publikum durch Übertreibungen und Überfeinerungen der
Bühneneinrichtungen auf der einen und der Sensationssucht und Verzwicktheit der
Dichtungen auf der andern Seite die Naivetät und die Genußfreudigkeit, der Sinn
für das Einfache und das Große verloren gegangen ist. Das realistische Stoffgebiet
ist beinahe erschöpft; die Leiden der kleinen Leute, die Trauerspiele im Keller sind
altmodisch geworden, und die neue Kunst mit ihren Stimmungsreizen und symbolischen
Geheimnissen schwankt noch, mehr unter Schemen als unter Menschen, ungewiß
tastend hin und her. Die Geschichte, der vornehmste und reichste Boden für die
dramatische Dichtung bei allen Völkern, gibt in der Hauptsache nur noch für das Buch¬
drama eine Ernte ab; auf den Berliner Bühnen ist diesmal kein neues historisches
Drama, selbst wenn man den Begriff noch so weit faßt, zur Aufführung gelangt.
Hier vor allem wäre es die Pflicht des Königlichen Schauspielhauses einzutreten.
Der neue Intendant der königlichen Schauspiele, Georg von Hülsen, ist in seiner nun¬
mehr dreijährigen Tätigkeit sowohl im Opern= wie im Schauspielhause durch bauliche
Veränderungen vielfach gehemmt worden. Aus dem Stillstand, in dem sich das