19. Der Ruf des Lebens
box 24/2
302
Deutsche Rundschau.
führten von Maxim Gorki das Schauspiel „Nachtasyl“ und von Anton
Tschechow die Dramen: „Onkel Wanja“ und „Die drei Schwestern“ auf
und verkörperten gleichsam den Hauch und Duft der russischen Volksseele, der in
diesen Dichtungen weht. Anton Tschechows dramatische Fabeln sind ein dünnes
Gespinst, ohne stärkere Verknotung und tiefere Spannung. Zuweilen gibt es in
ihnen wohl einen leidenschaftlichen Ausbruch, aber im allgemeinen fehlt die fort¬
laufende dramatische Bewegung und Steigerung. Ihr Reiz liegt in ihrer Wahrheit
und Melancholie. Sie schildern die russischen Zustände als etwas Elementares, dem
sich niemand entziehen kann, der darin geboren ist. Die Unendlichkeit und Ode,
die ganze Resignation der Steppe wird in ihnen lebendig. Stanislawski und
Frau Tschechow=Knipper erscheinen als die bedeutendsten schauspielerischen Kräfte
der Gesellschaft. Aber nicht um die Leistung der einzelnen, nicht um das Geschick des
Regisseurs handelt es sich bei diesen Vorstellungen, sondern um den harmonischen Ein¬
klang zwischen Dichtung, Einrichtung und Zusammenspiel und um die bewußte und
unbewußte Hervorkehrung des nationalen Typus und Wesens. Für die Vorstellungen
des Moskauer Theaters in Berlin war es darum ein besonderer Neiz, daß eine große
Anzahl russischer Gäste, welche die politischen Unruhen aus ihrem Vaterlande für eine
Weile nach unsrer Stadt verschlagen haben, den Theatersaal füllten: sie zeigten uns,
wie ähnlich und naturgetreu ihre Abbilder auf der Bühne waren, und erweckten un¬
willkürlich in jedem nachdenklicheren Zuschauer Vergleiche zwischen der Vergangenheit
Rußlands, welche die Bühne, und seiner Gegenwart, die sie darstellten. Die Reise
der Moskauer Theatergesellschaft durch die Hauptstädte Westeuropas wird der russischen
Schauspielkunst in der allgemeinen Schätzung einen Ehrenplatz neben der deutschen
und englischen, der französischen und italienischen gewinnen, in dem Alfresco des
historischen Dramas wie in der Kleinmalerei des bürgerlichen Schauspiels.
Karl Frenzel.
box 24/2
302
Deutsche Rundschau.
führten von Maxim Gorki das Schauspiel „Nachtasyl“ und von Anton
Tschechow die Dramen: „Onkel Wanja“ und „Die drei Schwestern“ auf
und verkörperten gleichsam den Hauch und Duft der russischen Volksseele, der in
diesen Dichtungen weht. Anton Tschechows dramatische Fabeln sind ein dünnes
Gespinst, ohne stärkere Verknotung und tiefere Spannung. Zuweilen gibt es in
ihnen wohl einen leidenschaftlichen Ausbruch, aber im allgemeinen fehlt die fort¬
laufende dramatische Bewegung und Steigerung. Ihr Reiz liegt in ihrer Wahrheit
und Melancholie. Sie schildern die russischen Zustände als etwas Elementares, dem
sich niemand entziehen kann, der darin geboren ist. Die Unendlichkeit und Ode,
die ganze Resignation der Steppe wird in ihnen lebendig. Stanislawski und
Frau Tschechow=Knipper erscheinen als die bedeutendsten schauspielerischen Kräfte
der Gesellschaft. Aber nicht um die Leistung der einzelnen, nicht um das Geschick des
Regisseurs handelt es sich bei diesen Vorstellungen, sondern um den harmonischen Ein¬
klang zwischen Dichtung, Einrichtung und Zusammenspiel und um die bewußte und
unbewußte Hervorkehrung des nationalen Typus und Wesens. Für die Vorstellungen
des Moskauer Theaters in Berlin war es darum ein besonderer Neiz, daß eine große
Anzahl russischer Gäste, welche die politischen Unruhen aus ihrem Vaterlande für eine
Weile nach unsrer Stadt verschlagen haben, den Theatersaal füllten: sie zeigten uns,
wie ähnlich und naturgetreu ihre Abbilder auf der Bühne waren, und erweckten un¬
willkürlich in jedem nachdenklicheren Zuschauer Vergleiche zwischen der Vergangenheit
Rußlands, welche die Bühne, und seiner Gegenwart, die sie darstellten. Die Reise
der Moskauer Theatergesellschaft durch die Hauptstädte Westeuropas wird der russischen
Schauspielkunst in der allgemeinen Schätzung einen Ehrenplatz neben der deutschen
und englischen, der französischen und italienischen gewinnen, in dem Alfresco des
historischen Dramas wie in der Kleinmalerei des bürgerlichen Schauspiels.
Karl Frenzel.