II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 210

19. Der Ruf des Lebens
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Die Berliner Theater.
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der schauspielerische
Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, dar. Von einer straffer zusammengezogenen
Handlung, von einem innerlichen Schluß muß man auch hier, wie in dem Schauspiel
wenn es sich um so
„Nachtasyl“, absehen. Maxim Gorki bleibt auch als Dramatiker Skizzenmaler und
Leipzig und Ludwig
Erzähler. Die Menschen und die Zustände im Hause des gelehrten Prorassow, dessen
bung wie die Max
Spezialfach die Chemie ist, werden uns behaglich und liebenswürdig geschildert. Um
geriet beständig mit
seiner Studien und Versuche willen vernachlässigt er seine hübsche und geistvolle
Intendanten, Georg
Frau Helene, die darüber in allen Ehren einen Flirt mit dem Maler Wagin an¬
re Uhereinstimmung
gefangen hat. Protassow begeistert sich für die Zukunft des Menschengeschlechts, das durch
as Schauspielhaus
die Wissenschaft aus Unfreiheit und Roheit erhoben werden soll, und behandelt die
Theaterleben Berlins
kleinen Leute mit Rücksicht und Güte, die sie nicht verstehen. Sie prügeln ihn
durch, als er einen Arzt für eine Kranke ins Haus bringt. Denn sie wollen alle
chauspielhauses
er Bühne
Arzte totschlagen, seit die Cholera in der Stadt ist. Protassows Schwester Liesa
ist ebenfalls voll von Menschenliebe. Die Rolle, die in der Kulturentwicklung er der
rsten Helden¬
Wissenschaft, schreibt sie der Güte zu. Dabei ist sie unfähig, sich ihr eignes Glück
ublikum
zu schmieden. Die Werbung eines wackeren Tierarztes Tschepurnol, der das Herz
93 noch
auf dem rechten Flecke, die Satire auf der Zunge und die Faust zur Abwehr jeder
wo von
Unbill bereit hat, schlägt sie aus, obwohl sie ihn liebt, weil sie glaubt, duß sie an
üngsten
einer unheilbaren Krantheit leidet Darüber erhängt er sich, und sie wird wahn¬
hat diese
sinnig. Alle Vorgänge sind gut beobachtet und die Figuren plastisch und lebenswahr
der
einander gegenübergestellt, abei das Ganze verläuft ohne rechten Anfang und Schluß,
ohne aus einer gemeinsamen Wurzel emporzuwachsen und sich von innen heraus
rer
zu entwickeln, mehr betrübsam als tragisch, mehr beklemmend als befreiend.
Das künstlerische Ereignis der Spielzeit war, wie ich schon am Eingang hervor¬
hob, das Gastspiel des Moskauer künstlerischen Theaters, das im
Berliner Theater, unter der Leitung des Herrn Dantschenko und Stanis¬
lawski, vom Freitag, den 23. Februar bis zum Sonnabend den
24. März bei vollen Häusern und einstimmigem Beifall stattfand. Von der
Entstehung, der Entwicklung und dem Wesen dieses Theaters hat Eugen Zabel im
Aprilheft der „Deutschen Rundschau“ einen eingehenden und interessanten Bericht
erstattet. Die Berliner Vorstellungen haben sein Lob in vollem Maße bestätigt.
Wir haben die russische Gesellschaft nur als eine nationale kennen gelernt, ihre Auf¬
führung des Ibsenschen Schauspiels „Der Volksfeind“ war die einzige aus
einem fremden Stoffkreise, die sie uns darboten, und sie war, trotz des trefflichen
Spiels der einzelnen, im allgemeinen Eindruck die schwächste. Wir vermißten den
grauen norwegischen Ton des Originals und den satirischen Ingrimm des Dichters,
der das Stück erfüllt. Wie sie sich zu der klassischen Dramatik Shakespeares und
Schillers verhalten, wie sich eine Komödie Molières auf ihrer Bühne ausnehmen
würde, vermögen wir aus eigner Anschauung nicht zu beurteilen: ihre nationalen
Dichtungen aber bringen sie mustergültig zur Darstellung. Die ganze Kunst der
Meininger in ihrer ersten Frische und Leuchtkraft lebte in ihrer Aufführung des
historischen Schauspiels „Zar Feodor Joannowitsch“ von dem Grafen
Alexej Tolstoi wieder auf. Das Stück ist das mittelste einer Trilogie, die den
Tod Iwans des Schrecklichen, die Regierung seines schwachsinnigen Sohnes Feodor
und den Untergang des Usurpators Boris Godunow im Kampf gegen den falschen
Demetrius schildert. In seiner Form gleicht das Drama „Zar Feodor“ durchaus
unsern historischen Schauspielen, die geschichtlichen Tatsachen liefern die Grundlage
zu sieben dramatisch bewegten Bildern. Die Charakteristik des gutmütigen, willen¬
losen Zaren, der von jedem Eindruck abhängig ist und schließlich dem Geiste und
der Tatkraft seines Schwagers, des Boris Godunow, erliegt, ist dem Dichter besonders
gelungen und hält die Aufmerksamkeit des Zuschauers beständig in Spannung. Die
Einrichtung der Szene, die Kostüme der Figuren überraschen, blenden und fesseln
durch Pracht und Fremdartigkeit; man glaubt, iebende Bilder aus dem Hof= und
Volksleben Rußlands um das Jahr 1600 zu sehen. Und ebenso wahr und malerisch
wie die Wiedergabe des historischen glückte ihnen die des modernen Rußlands. Sie