II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 226

19. Der Ruf des Lebens

Feuilleton.
Theater und Konzert. (7
Leipzig, 2. Februar.
O. F. Schauspielhaus. Angenommen, jemand hätte
Artur Schnitlers Schauspiel „Der Ruf des Lebens“,
das gestarzig zum erstenmal gegeben wurde,
nach dem ersten Akt verlassen, so konnte er die Ueberzeugung
mit sich nehmen, das wundervollste unter den modernen
Dramen entdeckt zu haben. Schnitzler hat einen beneidens¬
werten Stoff gefunden, und keiner schien wie er geeignet,
ihn zu gestatten: sein ganzes Schaffen drehte sich um die
eine schmerzliche Idee von der Verganglichkeit der Jugend,
die Sinnlosigkeit des Lebens selbst — gibt es einen Gedanken,
der aufwühlender und aufpeitschender sein kann? Sicher
ist es dasjenige Gefühl, das in der Tiefe jeder künstlerischen
Seele lauert und sie überschattet. Und Schnitzler, der rest¬
lose, liebenswerte Dichter, gestaltete die melancholische
Zartlichkeit dieser Untergangsstimmung deshalb so unver¬
geßlich, weil er ein Anbeter aller schönen, farbigen und
romanhaften Dinge war. Im „Ruf des Lebens“ steigerte
er die Melancholie zur Tragik und machte dadurch dieses
Stück zu einer Probe seines dramatischen, also eines ag¬
gressiven und nicht mehr bloß lyrischen Talentes. Und
die Exposition der Fabel ist, wie gesagt, wundervoll. Die
blauen Kürassiere haben vor dreißig Jahren den österreichi¬
schen Namen dadurch befleckt, daß sie zuerst vor dem Feinde
die Flucht ergriffen. Und der erste unter ihnen war der
Rittmeister Moser, den ein Grauen davor ergriff, sterben
zu müssen. Dies Grauen wurde der Grundzug seines Cha¬
rakters und ließ eine Reihe von hämischen, menschenfeind¬
lichen Eigenschaften an sich kristallisieren. Heute ist er neun¬
undsiebzig Jahre alt und ein kranker Mann, der an den
Stuhl gefesselt ist. Er brutalisiert seine Tochter Marie,
die 26jahrige Wienerin, die alle begehrenswerten Attribute
einer Wienerin hat. Er unterdrückt sie und befriedigt an
ihr seine zynische Rachsucht gegen die Lebenden. Sie haßt
ihn und wird von Wünschen verzehrt, die jemand grauen¬
haft nach dem gewöhnlichen Maßstab nennt. Das Bewun¬
derungswürdige ist, daß der Alte und das Mädchen samt
diesen leidenschaftlichen Begierden glaubhaft erschei¬
nen. Marie ist mit einem Forstadjunkten verlobt, aber
seit sie auf einem Ball mit einem jungen Offizier von den
blauen Kürassieren tanzte, liebt sie ihn nicht mehr.
Es
bricht Krieg aus, und da verbreitet sich das Gerücht, die
blauen Kürassiere hätten geschworen, zur Sühne für die
Schmach vor dreißig Jahren bis auf den letzten Mann
unterzugehen. Ungewöhnliche Stimmung liegt in der Luft,
der Tod rückte bis an die bürgerlichste Alltäglichkeit, alle
leidenschaftlichen Naturen flammen in
dem Ge¬
fühl auf,
wie nahe Tod und Liebe, Untergang und
Seligkeit sind — Marie opfert alles, um eine starke, leuch¬
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tende Nacht bei dem todgeweihten Geliebten zu
feiern, und, das Opfer ist der Vater, sie gibt ihm
einen Schlaftrunk, dessen Dolis ihn tötet. Damit schließt
der erste Akt. Aus ihm spricht das Bestreben, alles, alles,
was diese Idee an Wendungen, Beleuchtungen, an Stärke
und ungeahnter Tiefe besitzt, herauszuarbeiten. Und Marie
erscheint wie eine der Rollen, die die seltenen, größten Schau¬
spielerinnen verlangen — was wird dieses junge verschlossene
Weib noch offenbaren? Aber der zweite und dritte Akt
sind eine so unerwartete so unheilbare Enttäuschung, daß
„der Ruf des Lebens“ statt eines Meisterstückes eine ver¬
worrene und ernüchternde Unerträglichkeit wird. Statt die
Idee durchzuführen, daß es Umstände geben kann, in denen
die Verschwendung der eigenen Lebenskraft und die rück¬
sichtslose Erfüllung der Sehnsucht nach dem Vollen möglich
und erlaubt erscheint, statt also Marie dem Höhepunkt der
Leidenschaftlichkeit entgegenzuführen, aus dem dann die
Tragik der Verhältnisse, die „Schuld“ folgen würde, läßt
Schnitzler sie sich dem Offizier in die Arme werfen, obwohl
er sie nur wie eine Dirne nimmt, nachdem vor ihren und
seinen Augen seine eigentliche Geliebte erschossen worden
ist. Darauf, während das Regiment zum Tode ausrückt, er¬
schießt er sich selbst. Der dritte Akt ist dann nur noch ein
Anhangsel, das keinen neuen Zug und keine Lösung bringt.
Die ansprechendste schauspielerische Leistung war Herr
Willi (Doktor Schindler); Herr Forsch gab den alten
Moser so, daß er nicht immer die Schablone vermied, aber
ihn auch glaubhaft machte. Herr Junker als Max über¬
traf jedenfalls seinen Obersten (Herrn Schreiner).
Herr Mühlhofer gab seinen Adjunkten zu ruhig, man
glaubt ihm nicht, daß er Katharina geopfert hat. Frl.
Oswald war äußerlich eine recht sympathische Marie,
aber sobald sie Erregung gestalten soll, ist ihr Organ rauh
und unschön. Frl. Hruby (Irene) gelang ebensowenig
wie ihr die lyrische Frauenhaftigkeit dieser Schnitzlerschen
Gestalten, während die Katharina der Frl. Reimers in
dem letzten Akt, in dem sie als Ophelia auftritt, sich Ve=10
deutend gegen den ersten Akt hob.
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(Quellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus:
LINER TAGBLATT
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E vom: 4-FE31907

Aus Leipzig meldet unser Korrespondent: Artur
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dreiaktiges Schauspiel „Der Ruf des Lebens ##
im Berliner Lessing=Theater zur Aufführung gelangt war, fand bei
vorzüglicher Darstellung im Leipziger Schauspielhause
eine sehr beifällige Aufnahme, trotzdem einige krasse Szenen ziemlich
gabstoßend wirkten.