II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 252

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19. Der Ruf des Lebens
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(Quellenangabe ohne Gewähr).
Ausschnitt Ailustriertes Wiener Extrablatt
Wien
12017.1909
vom:
angebracht, aber der Dichter braucht das Fenster
noch zu weiteren dramatischen Zwecklosigkeiten. Als
Theaterzeitung.
sich der Ehemann vom Fenster und der Hausfreund
aus der Stuhe entfernt, stürzt die Triebmaid herbei,
um ihr blaues Idol zu umarmen. Sie hört
„Der Ruf des Lebens. 2#
Stimmen von außen und versteckt sich hinter einem
Vorhang. Die Frau Oberst rückt soeben dem Leutnant
Schauspiel in drei Aufzügen von Artur Schnitzler.
Aufgeführt im Deutschen Voltstheat
auf die Bude. In der Kaserne — bitte, die Ge¬
fahr! — kommt sie in das Zimmer des Geliebten.
Was ist Deine Feder von Blut so rot, Artur?
Vermutlich denkt sie sich, daß die Todgeweihten
Du schlägst einen Haufen Menschen tot, Artur!...
ringsum andere Sorgen haben, als sie zu bemerken.
Nein, nein, ich will keine Ballade singen, es
Aber der Gatte kann doch jeden Augenblick ein¬
widerstrebt mir, dem feinsten Dichter unserer Stadt
treten? Tut er auch. Der Herr Oberst steigt, den
Spott anzutun. Mein Glaube an ihn könnte den
Mantel fester haltend als die Würde, durch das
Parnaß versetzen! Denn sein Irren ist menschlich,
Fenster und überrascht auf diesem ungewöhnlichen
selbst noch in diesem unmenschlichen Stück.
Wege das Paar. Und er knallt die Frau kaltty“
Offenbar schwebte ihm die Idee vor, die Ent¬
Blutes nieder. Dieses war der zweite Todesfall.
sühnung eines Vatermordes dritthalb tausend Jahre
„Nehmen Sie den
Mit den Worten:
nach den antiken Tragikern zu zeigen, aber er
Mord auf sich,“ verläßt der Rächer den
vergaß, daß zu solcher Fleckputzarbeit die Götter ge¬
zurückgebliebene
Schauplatz der Tat. Der
hören, die längst nicht mehr herniedersteigen.
Offizier will gerabe die Pistole an die eigene Brust
Das Stück spielt um die Mitte des vorigen
setzen, als Marie hervortritt. Trotzdem sie Ohren¬
Jahrhunderts in Wien. Es setzt mit einer wunder¬
zeugin von den Leidenschaftsausbrüchen der Frau
lichen Legende ein. Das Regiment der blauen
Oberst war, trotzdem sie von dem Leichnam des
(Kürassiere, das dreißig Jahre vorher vor dem
gemordeten Vaters kommt, und trotzdem sie
auf den Leichnam der erschossenen Nebenbuhlerin
Feinde die Flucht ergriff, zieht jetzt zur Sühne dem
sicheren Tode entgegen. Die Mannschaft hat den
stößt, vergeht ihr doch nicht der Appetit auf Liebe!
Schwur geleistet, sich auf eine Schlachtstätte zu
Denn sie ist schon 26 Jahre alt und hat noch nichts
stellen, von der es keine Wiederkehr gibt. Sämtliche
für die Unsterblichkeit des Menschengeschlechtes
Krieger, vom Gemeinen aufwärs, huldigen
getan! Der junge Krieger läßt die kalte Ehe¬
enthusiastisch diesem Sühngedanken. Sie alle sind
brecherin im Zimmer liegen und geht mit Marie
unschuldig an der Schmach ihrer Vorläufer, von
fort, um ihre so dringende Angelegenheit außer¬
denen nur noch einer am Leben ist, aber sie reden sich
halb der Anstalt in Ordnung zu bringen. Dann
trotzdem in eine wahre Berserkerbegeisterung hinein,
kommt er zurück und erschießt sich bei geschlossenem
als ob es gar so süß wäre, für fremde Schuld dem
Vorhang. Dieses war der dritte Todesfall.
Vaterlande wegzusterben!
Im letzten Akt säuselt ein sanfter lyrischer
Das ist ein schöner Sagenstoff, geeignet für
Wind. Base Katharina, die sich monatelang auf
eine aus alten romantischen Tagen schmetternde
dem Felde der Unehre herumgetrieben, kommt zu
Ballade, aber nicht für das flutende Leben einer
Muttern heim, um wie Ophelia holdwahnsinnig zu
Zeit, von der uns nur ein halbes Jahrhundert
sprechen und wie die Kameliendame zu sterben.
trennt. In das Licht der Wirtlichteit gerückt,
Diees war der vierte Todesfall. Dazu kommen noch
kracht die Fabel in den Fugen und mit ihr alles,
weitere 998 Todesfälle, denn das ganze Kürassier¬
was drum und dran hängt.
Regiment, abzüglich des bereits durch Selbstmord
Man lernt nie aus beim Theater. Ich hätte
umgekommenen Leutnants und eines durch Zufall
nicht geglaubt, daß der „Ruf des Lebens“ den
am Leben gebliebenen Kameraden, ist getreu dem
Erfolg haben werde, den er gestern tätsächlich er¬
Schwure in der Schlacht gefallen. Aus Schande
zielte. Der erste meisterhaft geführte Akt mußte
darüber, daß er dem Tode entging, brachte auch
frei.ich gefallen, wenn auch die Schlußszene nicht
der letzte Ueberlebende, sich selber um. Und was
nach jedermanns Geschmack ist. Was aber dann an
geschah mit Marie, der Vatermörderin? Die
romanhaften Begebenheiten und knallender Theatralik
wollte sich dem Gerichte stellen, aber der liebende Haus¬
geleistel wird, hätte nicht verdient, so beifällig
arzt sagte wissentlich falsch aus, daß der alte Mann
ausgenommen zu werden. Ein Glück für Artur
eines natürlichen Todes gestorben ist. Und so geht
Schnitzler, daß er der Artur Schnitzler ist, denn
die Sünderin frei herum und wird von dem
einem minder beliebten Dramatiker wär es kaum
gütigen Doktor noch mit der Aussicht auf einen
so gut ergangen. Das vielverschriene Premieren¬
Platz an der Sonne getröstet, wenn sie den Ruf des
publikum hat also doch noch Respekt vor seinen
Lebens einmal reiner und tiefer ersassen sollte. Eine
Tichtern. Und das ist das Erreuliche an dem
Vatermörderin, die, statt von dem Schwurgerichte,
gestrigen Abend.
von ihrem Hausarzt freigesprochen wird, will mir
Die Wiedergabe des Inhalts macht mir
nicht in den Sinn. Vielleicht heiratet noch der gute
weniger Freude. Ich erzähle wie folgt: Mit
Mann die Dame, die sich selbst zur Waise machte!
todgeweihten Regiments
zwei Leutnants des
Ich gönne sie ihm. Und dabei war der Vatermord
haben in einer Faschingsnacht Christine und
nicht einmal eine dramatische Notwendigkeit, denn
sie heißen jetzt Marie
die Schlager=Mizzi
zur Einschläferung des Alten hätten zehn Tropfen
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