19. Der Ruf des Lebens
Frandent massen?
1 Majestät, werden.“
blutige Operetie der Balkan=Politik. Man ahnt,
gegen welche schmierige und lächerliche Wider¬
stände Oesterreich die Annexion durchzuführen
hatte. Ein Netz von Intriquen, mit blanken
Schwerte durchgeschnitten. Die Kriegsentschädi¬
gung ward den südslavischen Politikern von Ser¬
bien in allzu kleiner Bestechungsmünze ausbe¬
zahlt. Eine lustige, doch auf die Dauer immer¬
hin allzu degontante Komödie. Asien, das vor den
Wicner-Giesehrenen betenert, es wäre Eurepalse
Das wirkliche Theaier, viel knapper und schla¬
gender, als die viele Tage und Nächte währenden
Vorstellungen im Parlament und im Salon der
Frau Themis, hat den Wienern diesmal endlich
zwei Werke gebracht, die, in ihren Grenzen, mit
ihren Fehlern, doch eine Erquickung waren, weil¬
sie wieder Beziehungen zwischen Theater und
Kunst brachten, wo sonst die Brücke fast immer
abgebrochen ist. Schnißlers Schauspiel „Ruf
des Lehens“ Weragikomödie „Mu¬
Der Wiener Poet hat seinem eigenstei
fik“.
Werke hier für eine Berliner Niederlage eine
schöne und vollkommene Genuginung geholt. Nie
ist seine sanfte Nachdenklichkeit serner dem Publi¬
kum gewesen, und nie hat es ihm sein Publikum
herzlicher gedankt. Greuel, Tod Gelüste sind hier
fast abenteuerlich gehäuft, ein Mädchen gibt sei¬
nem greisen Vater einen tödlichen Schlaftrund
und läuft zu ihrer ersten Liebesstunde, um sich
und einem jungen Offizier, der in den Krieg
zieht, einen jener unausdrückbaren Augenblicke zu
geben, die Unendlichkeiten einschließen. Es istwahr
daß hier ein ganzes Regiment in den sicheren Toß
reitet, um die alte Schmach der blauen Kürassiere
aus einem anderen Kriege zu fühnen, jene feige
Flucht, die der Alie einst begann, der nun darau,
scheinbar nur an einem Schlaftrunke, stirbt. Es
ist ferner wahr, daß all dies unwahrscheinlich ist,
daß nie und nimmer Menschen in einer so gedan¬
kengesättigten, so durchscheinenden, beziehungsrei¬
chen Sprache sich ergingen. Und ebenso wahr ist,
daß die scheinbare Unnatur die wundervollste
Stilisierung bedeutet, einen inneren Reichiun
von fast verwirrender Gestalt und daß das glück¬
hafte Schiff des guten Dichters noch nie so über¬
voll von reichen Gaben dahinfuhr so schwer be¬
box 24/3
Telephon 12.801.
„OBSERVER“
l.österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschaltte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Gen! Kopen¬
ßagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis. New-York.
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
(Quellenangabe ehne Gewähr).
Ausschnitt aus:
22 12.1909 Frankfurter Zeitung
vom:
Vekiarion.
Wiener Theater.
(Arthur Schnitzler: „Der Ruf des Lebens'. Erstaufführung
im Deutschen Volkstheater. — Frank Wedelind:
„Musik" und „Censur“ im Lustspiel=Thealer. —
Alexander Römpler.
G Wien, 19. Dezember.
Drei Premièren brachte die Theaterwoche. Schnitzlers
„Ruf des Lebens“ im deutschen Volkstheater bei
vorzüglicher Besetzung, Wedekinds „Musik" und „Censur“
im Lustspiel=Theater mit der minderguten Besetzung
der Haupzrollen durch den Autor und seine Gattin. Schuit###
penkliches Werk wurde sehr freundlich aufgenommen;
wir bezeifeln aber, daß der Beifall mehr dem Werke als dem
mit Recht geschätzten Antor galt. Dafür liegen die Vorzüge
des Werks zu sehr außerhalb des Theaters, während seine
Mängel grade da zutage treten. Schnitzler ist ein philosophisch¬
lyrischer Kopf und ein Stimmungskünstler, aber ein Drama¬
Aker, der die Ewigkeitsperspektiven durch die stärkste Vertiefung
in den Einzelfall erreicht, ist er nicht. Er deutet hr, als er
gestaltet. Teutet mit einer sympathischen, etwas bmütigen
Weisheit. der wir nicht immer zustimmen mögen, weil sie uns¬
weichlich, wehleidig und jede Tüchtigkeit im Busen auflösend
vorkommt, die aber in der Wiener Literaturatmosphäre siegt¬
und also wenigstens in einer bestimmten Gesellschaftsschicht
bodenständig ist. Der Ruf des Lebens erklingt am lautfsten,
wenn der Tod an die Pforte pocht. Die Tochter des alten
*
bösen Rittmeisters, der seinen Kinder die Pforte des „Lebens“
sverren will, macht er zur Mörderin und treibt sie über Lei¬
chen in die Liebeskammer. Die schwindsüchtige Katharine holt
sich die Liebhaber von der Gasse und feiert tolle Nächte vor dem
sicheren Tod. Der witzige Oberst rechnet schuell noch mit seiner
Frau ab und führt ein ganzes Regiment auf die Schlachtbank,
nur um sicher alle diejenigen zu treffen, mit denen sie ihn be¬
trogen hat. Leicht stirbt nur derjenige, der die „Zusammen¬
hänge“ kennt und sich für eine Idee opfert. Die Ironie des
Schicksals will aber, daß grade dieser seine private Sünde mit
der Gattin des Obersten durch Selbstmord sühnen muß und
von dem freudigen Schlachtentod ausgeschlossen bleibt. Der
philosophische Arzt gibt als Raisonneur in dem ganz lose an¬
gehängten Spilog die Ansicht des Dichters wieder, daß leben,
leben der Güter höchstes ist und alles vergessen werden kann,
solange man nur atmet. Es ist ärztliche Weisheit, vielleicht
die letzte und wahrste, aber zum Leben, das des Lebens wert
ist, taugte sie nicht. Leben heißt wirken im selbstgewählten
Berufe: Lust und Leid kommen und gehen, aber den Tüchtigen
Verschüttern sie nicht mehr, als der Seitenwind die ausbalan¬
S
cierte Flugmaschine. Wir haben alle zu lange überden Sinn
des Lebens gegrübelt. Dem Grübelnden bleibt ersewig ver¬
borgen, dem Rüstigen kommt die Frage kaum.
Carge
8
Frandent massen?
1 Majestät, werden.“
blutige Operetie der Balkan=Politik. Man ahnt,
gegen welche schmierige und lächerliche Wider¬
stände Oesterreich die Annexion durchzuführen
hatte. Ein Netz von Intriquen, mit blanken
Schwerte durchgeschnitten. Die Kriegsentschädi¬
gung ward den südslavischen Politikern von Ser¬
bien in allzu kleiner Bestechungsmünze ausbe¬
zahlt. Eine lustige, doch auf die Dauer immer¬
hin allzu degontante Komödie. Asien, das vor den
Wicner-Giesehrenen betenert, es wäre Eurepalse
Das wirkliche Theaier, viel knapper und schla¬
gender, als die viele Tage und Nächte währenden
Vorstellungen im Parlament und im Salon der
Frau Themis, hat den Wienern diesmal endlich
zwei Werke gebracht, die, in ihren Grenzen, mit
ihren Fehlern, doch eine Erquickung waren, weil¬
sie wieder Beziehungen zwischen Theater und
Kunst brachten, wo sonst die Brücke fast immer
abgebrochen ist. Schnißlers Schauspiel „Ruf
des Lehens“ Weragikomödie „Mu¬
Der Wiener Poet hat seinem eigenstei
fik“.
Werke hier für eine Berliner Niederlage eine
schöne und vollkommene Genuginung geholt. Nie
ist seine sanfte Nachdenklichkeit serner dem Publi¬
kum gewesen, und nie hat es ihm sein Publikum
herzlicher gedankt. Greuel, Tod Gelüste sind hier
fast abenteuerlich gehäuft, ein Mädchen gibt sei¬
nem greisen Vater einen tödlichen Schlaftrund
und läuft zu ihrer ersten Liebesstunde, um sich
und einem jungen Offizier, der in den Krieg
zieht, einen jener unausdrückbaren Augenblicke zu
geben, die Unendlichkeiten einschließen. Es istwahr
daß hier ein ganzes Regiment in den sicheren Toß
reitet, um die alte Schmach der blauen Kürassiere
aus einem anderen Kriege zu fühnen, jene feige
Flucht, die der Alie einst begann, der nun darau,
scheinbar nur an einem Schlaftrunke, stirbt. Es
ist ferner wahr, daß all dies unwahrscheinlich ist,
daß nie und nimmer Menschen in einer so gedan¬
kengesättigten, so durchscheinenden, beziehungsrei¬
chen Sprache sich ergingen. Und ebenso wahr ist,
daß die scheinbare Unnatur die wundervollste
Stilisierung bedeutet, einen inneren Reichiun
von fast verwirrender Gestalt und daß das glück¬
hafte Schiff des guten Dichters noch nie so über¬
voll von reichen Gaben dahinfuhr so schwer be¬
box 24/3
Telephon 12.801.
„OBSERVER“
l.österr. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschaltte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Gen! Kopen¬
ßagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis. New-York.
Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Petersburg.
(Quellenangabe ehne Gewähr).
Ausschnitt aus:
22 12.1909 Frankfurter Zeitung
vom:
Vekiarion.
Wiener Theater.
(Arthur Schnitzler: „Der Ruf des Lebens'. Erstaufführung
im Deutschen Volkstheater. — Frank Wedelind:
„Musik" und „Censur“ im Lustspiel=Thealer. —
Alexander Römpler.
G Wien, 19. Dezember.
Drei Premièren brachte die Theaterwoche. Schnitzlers
„Ruf des Lebens“ im deutschen Volkstheater bei
vorzüglicher Besetzung, Wedekinds „Musik" und „Censur“
im Lustspiel=Theater mit der minderguten Besetzung
der Haupzrollen durch den Autor und seine Gattin. Schuit###
penkliches Werk wurde sehr freundlich aufgenommen;
wir bezeifeln aber, daß der Beifall mehr dem Werke als dem
mit Recht geschätzten Antor galt. Dafür liegen die Vorzüge
des Werks zu sehr außerhalb des Theaters, während seine
Mängel grade da zutage treten. Schnitzler ist ein philosophisch¬
lyrischer Kopf und ein Stimmungskünstler, aber ein Drama¬
Aker, der die Ewigkeitsperspektiven durch die stärkste Vertiefung
in den Einzelfall erreicht, ist er nicht. Er deutet hr, als er
gestaltet. Teutet mit einer sympathischen, etwas bmütigen
Weisheit. der wir nicht immer zustimmen mögen, weil sie uns¬
weichlich, wehleidig und jede Tüchtigkeit im Busen auflösend
vorkommt, die aber in der Wiener Literaturatmosphäre siegt¬
und also wenigstens in einer bestimmten Gesellschaftsschicht
bodenständig ist. Der Ruf des Lebens erklingt am lautfsten,
wenn der Tod an die Pforte pocht. Die Tochter des alten
*
bösen Rittmeisters, der seinen Kinder die Pforte des „Lebens“
sverren will, macht er zur Mörderin und treibt sie über Lei¬
chen in die Liebeskammer. Die schwindsüchtige Katharine holt
sich die Liebhaber von der Gasse und feiert tolle Nächte vor dem
sicheren Tod. Der witzige Oberst rechnet schuell noch mit seiner
Frau ab und führt ein ganzes Regiment auf die Schlachtbank,
nur um sicher alle diejenigen zu treffen, mit denen sie ihn be¬
trogen hat. Leicht stirbt nur derjenige, der die „Zusammen¬
hänge“ kennt und sich für eine Idee opfert. Die Ironie des
Schicksals will aber, daß grade dieser seine private Sünde mit
der Gattin des Obersten durch Selbstmord sühnen muß und
von dem freudigen Schlachtentod ausgeschlossen bleibt. Der
philosophische Arzt gibt als Raisonneur in dem ganz lose an¬
gehängten Spilog die Ansicht des Dichters wieder, daß leben,
leben der Güter höchstes ist und alles vergessen werden kann,
solange man nur atmet. Es ist ärztliche Weisheit, vielleicht
die letzte und wahrste, aber zum Leben, das des Lebens wert
ist, taugte sie nicht. Leben heißt wirken im selbstgewählten
Berufe: Lust und Leid kommen und gehen, aber den Tüchtigen
Verschüttern sie nicht mehr, als der Seitenwind die ausbalan¬
S
cierte Flugmaschine. Wir haben alle zu lange überden Sinn
des Lebens gegrübelt. Dem Grübelnden bleibt ersewig ver¬
borgen, dem Rüstigen kommt die Frage kaum.
Carge
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