II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 330

19. Der Ruf des Lebens box 24/3
Heft
„Wiener Mode“ XXIII.
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spiel, geht in redseligen Altwiener Biedermeierzeiten vor sich, anno und kerngesund in ihren Ansichten, so echt volkstümlich, daß es ein¬
Lust ist, es zu bemerken. Das Bürgerliche wird gegen das Hochadelig.
Vatermörder und Strupfen. In dieser zu nahen Zeit erscheinen Le¬
ausgespielt, die Arbeit gegen das bloße Vergnügen. Die Moral wird
gende und Volkslied deplaciert. Die Zeit stimmt nicht recht zu den
in Steinkrügeln verzapft und tüchtig mit den Zinndeckeln dazu ge¬
Vorgängen. Doch ist gerade die Zeit mit Meisterschaft getroffen und
klappert. Etwas primitiv hergestellt à la Costa, Elmar, Langer. Gan¬
festgehalten. Je echter sie wirkt, um desto weniger stimmt das alles
alte Wiener Schule. Saubere Arbeit. Die Figuren Typen, Schablonen
1850 ungefähr — ist solcherlei ganz
zu ihr. In diesen Jahrgängen —
Klischees. Doch wozu wären Jarn und die Niese da? Die maches
undenkbar. Das hätte um mindestens drei Jahrhunderte in historische
schon Menschen aus Puppen. Neben ihnen waren Herr Traeges
Perspektiven zurückgerückt
und das kleine Fräulein Vock sehr wirksam.
werden müssen.
Im Lustspieltheater wurde „Musik“ von Frank Wede
In wenige Stücke läßt
kind gegeben. Der Dichter und seine Frau spielten die Hauptrollen
sich so viel Geist, Tief= und
Ueber dieses Werk sind die Meinungen nicht nur geteilt, sie strebei¬
Scharssinn hineininterpre¬
sogar heftig auseinander, befehden sich erbittert. Wo die einen Zarle#
tieren, wie in dieses. Der
fühlenden, Edelmeinenden sich als berufene Hüter und Wahrer das
Dichter wird wohl nicht
erhabensten Menschheitsgüter fühlen, die gegen einen dreisten Ver
schlecht gestannt haben, als
höhner und Zertrümmerer hochheilig zu bewahrender Ideale
er erfuhr, was er sich alles
Fechterstellung antreten, sehen die andern eine genialische dämonisch
nicht gedacht hat, als
Dichtung, die in einer ganz neuen losen und doch innerlich geschlossenes
er diese Szenen niederschrieb.
Form eine neue Tragikomik oder Komitragik birgt und eine kostbau
Fräulein Hanne¬
Ironie von unheimlicher Leuchtkraft. Gewiß! Das Werk verletzt vies
mann war ganz herrlich
sach, es empört, regt auf — doch es versöhnt auch wieder durch sein
als Marie, jeder Bewunde¬
ihm innewohnende pudelnärrische Spaßhaftigkeit. Wedekind ist keig
rung wert. Ihre Jnnigkeit
Schauspieler im gewöhnlichen Sinne Er spielt immer nur sich selbss
Zist so echt, ihr Leid greift
Mehr und weniger ist er als ein Schauspieler. Die Anfänge fehles
aus Herz, ihrer Träue muß
ihm, die man lernen, sich erwerben kann. Dafür hat er reichlich, war
- wie dem
man glauben
niemand von außenher gewinnen kann, was er an seell hem Fundug
Leichtsinnslächeln von Paula
mitbringen muß. Dieser Dilettant mitterwurzert mitunter ganz grost
Müller! Der Wahnsinn
artig, daß es um ihn herum nur so funkelt und wetterleuchtet. Sein
der Paula Müller war das
schöne Fau hat wohl kein es, aber dafür herrliche Nerven
Lieblichste und Erschütterndste
erschütt angen, Weinkrämpfe und Zerschluchzungen von einoringliche
dabei so vollig unthea¬
Wahrhaftigkeit. Das Stück hat viele geärgert, die es nicht versteher
tralisch! Diese beiden seltenen
konnten orer mochten. Es ist niemand zu verdenken, wenn ihm diest
Mädchen ergänzten sich auf
diabolischen Scherze zuwider sind, wofür man eigens organisiert seis
der Szene zur kunstreichsten
und manche anerzogene Kunstvorurteile in der Garderobe mit Galoschei
und natürlichsten Einheit.
und Mantel ablegen muß.
Auch Herr Kutschern“
Am Abend darauf: „Zensur“ ein Akt von Frank Wede#
Arzt, Frau Thaller
kind, g'spielt vom Herrn und von der Frau selber und Herr#¬
Mutter, Direktor Weisse
Vlente. Eine Theodizee. Zugleich Beichte, Anklage, Verteidigung
Oberst, boten stor Voll¬
Glaukensbekenntnis. Der Dichter setzt sich auf seine, die geistreichst
anderen
kommenes. Die
Art mit der irdischen Ungerechtigkeit, der Zensur und dem lieben Got#
waren auch alle ganz gut,
im Himmel in einem philosophisch tiefgründigen Dialog auseinander
ganz tüchtig, ohne ins
der großartigste Gedankenperspektiven eröffnet. Mit intelligentesten
aufzu¬
Außerordentliche

Lisbeth Steckelberg* (Neue Wiener Bühne).
Takt sprach Herr Bienke den jungen Priester, einen diplomatischen
steigen, was man auch nicht:
Fanatiker von besten Manieren.
von jedem Schauspieler ein jedesmal verlangen darf. Herr Homma
Zur Weihnachtszeit hat das Deutsche Volkstheater ein wunder
hat sich jedenfalls sehr viel Mühe gegeben mit dem alten, feigen,
schönes, fast geistreiches Kindermärchenspiel Hauserl“ von Frank¬
kranken Mann, aber das ist nicht seine Sache. Da hätte Martinelli herein¬
Martos aufgeführt, das den kleinen Damen Wurzel und Strnat
gehört — oder so einer — mit einem stahlharten, stahlkalten, gläsernen:
Gelegenheit gegeben hat, wirklich zum Staunen klug und geschickt und
Blick und dolchscharfem Ton, und die Dolchspitze in Gift getaucht loch
herzig zu agieren.
dazu — damit soll man dem redlichen Homma, der doch so viel,
Im Johann Strauß=Theater wurde auch eine neuts
gerade genug, kann, nicht kommen. Das ist nichts für ihn. Da muß
Weihnachts=Komödie gespielt: Goldreifchen“ von Paul Wert###
er versagen. Jede Begabung, auch die vielseitigste, hat ihre natürlichen
heimer und Mia Evers. Dieses liebliche, phantastische Spiel stehl
Grenzen.
viel höher als das meiste in dieser Gattung. Es ist ohne Prätensionen
Im Theater in der Josefstadt ist man von den franzö¬
literarisch und künstlerisch, und paßt sich doch dem kindlichen Fassungs###
sischen Dramen und Possenspielen zur „Heimatskunst“ zurückgekehrt
vermögen gut an. Ein poetischer Hauch weht durch diese anmutigen“
und hat Heinrich Schrottenbachs volksstückartige Komödie „Baron
Szenen. Paul Wertheimer hat als Lyriker seinen Ruf und Namen##
Liederlich“ mit Jarno und Niese gespielt. Ein leichtsinniger
Fräulein Evers die Konzipientin seiner poetischen Kanzlei, ist Schaut
ungarischer Kavalier hat eine Tochter, die einen amerikanischen Nabob
spielerin am Bürgertheater und ihre geringe Beschäftigung verstatte
bei ihm als Köchin gedient.
ihr so manchen Ritt ins alte romantische Märchenland!
heiratet, nachdem sie — die Baronesse —
Die Tochter ist natürlich die Niese. Sie ist so resch und fesch, so derb
Die Photographie von Karl Blusel, die wir im vorigen Hefte an dieser Stelle#
reproduzierten, stammt aus dem Atelier d'Dra, Wien.
Siehe 7. Oeft d. Jahrg., Seite 430.