II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 347

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19. Der Ruf es Lebens
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meint er. „Sechsundzwanzig und jung und schön und ein Frauenzimmer mit weißer
Haut und mit runden Armen! ... Nichts für dich verloren, nur Geduld! ...
Und wenn ich neunzig werde, dann bist du siebenunddreißig — immer noch Zeit
genug zu allerlei Kurzweil, nach der dich's gelüstet ... Dielleicht werde ich nicht
neunzig, vielleicht nur fünfundachtzig — oder am Ende dauert's gar nur mehr drei,
zwei Jahre, dann bist du frei, kannst deinen Adjunkten haben — oder den Doktor
— oder beide und noch andere dazu . . . wenn's dir lieber ist, dich ans Fenster
stellen und hübschen jungen Leuten winken . . .“ So höhnt sein egoistischer Selbst¬
erhaltungstrieb die Arme aus, die an seinem Krankenbett verblüht und ver¬
dorrt. Da dringt in die Krankenstube die Kunde von dem vorüberziehenden
Regiment, das verurteilt ist, in den Tod zu reiten, und nicht ahnend,
wie tief und stark das Ballabenteuer mit dem jungen Offizier in Marie
nachwirkt, mahnt der Arzt sie, an sich selbst zu denken. „Wenn Sie es etwa für
Ihre Oflicht halten, hierzubleiben, nur weil dieser Mann Ihr Dater ist, so sage ich
Ihnen, daß Sie höhere haben gegen sich selbst; und der Gott, zu dem wir nicht
beten, aber an den wir alle glauben müssen, straft es bitter, wenn sie verletzt
werden.“ Und Marie schüttet ihrem Dater den Tod ins Trinkglas und eilt zu dem
jungen Offizier, um in zwölfter Stunde dem Ruf des Lebens zu gehorchen, des
einzigen Lebens, das ihr noch lebenswert dünkt.
Welcher Art aber ist dieses Leben? In der Kammer des todgeweihten Offiziers
angelangt, wird Marie Zeuge einer furchtbaren Abrechnung zwischen dem Regiments¬
obersten und seiner jungen Frau, die aus gleichen Motiven den jungen Offizier
aufgesucht hat. Ein Revolverschuß knallt sie nieder und der Offizier, den die Frau
zur Flucht verleiten wollte, sieht sich um den Heldentod auf dem Schlachtfeld ge¬
prellt. Bevor er jedoch Hand an sich legt, steigt er mit Marie ins Hochzeitsbette.
Auch Marie wollte in den Tod gehen. Allein ihr graut vor dem Ende und sie
schleicht ins Daterhaus zurück, von wo die Tante sie mit auf das Land nimmt.
Dort vertrauert sie ihre Tage. „Wie mein eigenes Gespenst schleich ich durch die
Welt und mir graut vor mir selbst.“ Noch einmal bietet ihr ein wackerer Mann
die Hand zum Leben an. Doch sie lehnt ab. Wie darf sie es wagen, weiter zu
leben, gleich Menschen, die nicht alle Süßigkeit und alle Schrecken der Welt aus¬
gekostet, wie es wagen, aus einem solchen Schicksal wieder emporzutauchen zum
Leben? ... „Sie leben, Marie“, mahnt der Arzt, „und es war ... Auch seit
jener Nacht und seit jenem Morgen fließen die Tage und Nächte weiter für Sie
hin. Auch daß Sie über Feld und Wiesen spazieren gehen, daß Sie Blumen pflücken,
daß Einer versöhnt von Ihnen Abschied nahm, daß hinter diesem Fenster eine
Freundin Ihnen für ewig entschwindet, daß Sie hier mit mir reden unter dem
leuchtenden Mittagshimmel, ist Leben. Nicht minder als es jene Nacht gewesen ist,
da es Sie aus verstörter Jugend nach dunkeln Abenteuern lockte, die Ihnen heute
noch als Ihres Daseins letzter Sinn erscheinen ... Und wer weiß, ob Ihnen
nicht später, viel später einmal aus einem Tag wie der heutige der Ruf des Lebens
viel reiner und tiefer in die Seele klingen wird als aus jenem anderen, an dem
Sie Dinge erlebt haben, die so furchtbare und glühende Namen tragen wie Mord
und Liebe.“
Und während der Arzt in seinen milden Trostworten den Sinn des Spieles