de
19. Der Rufs Lebens box 24/3
484
Man sagt, daß dieses Regiment in einem Augenblick wich, da es hätte standhalten
müssen und können, daß diese Flucht die Übrigen mitriß und damit Schlacht und
Feldzug zum Unglück des Landes entschied. All das war beinahe in Vergessenheit
geraten. Dielleicht ist es auch niemals ganz wahr gewesen. Nun aber, da der
neue Krieg ausbrach, erinnerten sich die Offiziere des Regiments, von denen
damals noch keiner mitgefochten hat, der alten Schmach und sie haben vom Kaiser
die Gnade erbeten, mit dem eigenen Blute zu fühnen, was das Regiment vor
dreißig Jahren verschuldet haben soll. Sie haben verlangt, dorthin gestellt zu
werden, wo sie wohl den anderen von Rutzen sein können, wo aber ihr eigenes
Derderben unabwendbar ist, und haben einander zugeschworen, daß keiner von
ihnen die Heimat wiedersehen wird. Niemand kennt den Schuldigen, aber alle
wollen sie sühnen. Nur einer kennt ihn, dieser aber hat nie davon gesprochen.
Es ist Mariens kranker Dater und er gesteht ihr knapp vor seinem Code, daß er
es selber war, der durch seine Flucht die anderen mitgerissen hat. Er führte die
dritte Eskadron und hatte mit seinen Leuten zu warten. Seit vier Uhr morgens
saßen sie zu Pferd und mußten warten. Alle sehnten sich nach einem Befehl zum
Dorwärtsgehen und mußten warten. Eine Ewigkeit hundert Ewigkeiten...
Sie durften sich nicht rühren und mußten warten. Don Fern her donnerte es und
heulte es ... Aber sie wußten nicht, was geschah, und sie mußten warten ...
Da mit einem Male packte ihn, was er früher nie gekannt, die Angst ... eine
entsetzliche Angst und in diesem Augenblicke fühlte er, daß er noch nicht gelebt hat.
„Und ich wollt leben, wie andere dürfen ... eine Frau wollt' ich haben und
Kinder und leben! ... Und so rast' ich davon, die anderen mit mir, mir nach ..
vor mir ... überall ... davon ... davon ... Und so ist es geschehen, daß ich
heil zurückgekommen bin aus der Schlacht und ein Weib geheiratet hab', das mich
verachtet, und ein Kind gekriegt, das mich haßt . .. und so ist es gekommen, daß
heute die jungen Leute in den Tod ziehen, die ich nicht kenne, und daß ich noch
lebe mit neunundsiebzig und sie alle überleben werde “
Und wie Mariens Dater, sind auch die Offiziere, die in dem Stücke auftreten,
organisch mit der Handlung verknüpft und nicht allein dazu da, um das Wider¬
spiel von Tod und Leben in den verschiedensten Spiegelungen zu veranschaulichen.
Dom Obersten angefangen bis herab zum jüngsten Leutnant; jeder zeigt eine
andere Kehrseite von Heldenmut und Tapferkeit, von Lebenslust und „Überdruß,
und jeder tritt dem Tod anders entgegen. Anders der Oberst, der auf eine un¬
befriedigte Laufbahn zurückblickt, seinen tatenarmen Beruf als unwürdige Spielerei
empfindet und darum den Krieg als eine Erlösung begrüßt und Dorsorge trifft,
daß sein Regiment auch wirklich ins Feuer komme; anders der junge Leutnant, der
nicht einsieht, warum gerade sein Regiment durch freiwilligen Tod sühnen soll, was
andere verschuldet haben. „Keiner von allen, die damals kämpften und flohen, ist
mehr da; gegen einen anderen Feind zieh'n wir aus und für einen anderen Herrn;
die Fahne selber weiß nicht mehr, wer sie trug.“ Aber das heimliche Grauen vor
dem Ende ist ihnen allen gleich. Mag der eine den Tod suchen, der andere ihn
scheuen, magisch lockt der Ruf des Lebens. Und wenn ich den Sinn des Schau¬
spieles recht verstanden habe, so ist es der: wir alle, seien wir noch so mutig, noch
so unglücklich, sträuben uns dennoch gegen den Tod, wie sich das Kind sträubt,
19. Der Rufs Lebens box 24/3
484
Man sagt, daß dieses Regiment in einem Augenblick wich, da es hätte standhalten
müssen und können, daß diese Flucht die Übrigen mitriß und damit Schlacht und
Feldzug zum Unglück des Landes entschied. All das war beinahe in Vergessenheit
geraten. Dielleicht ist es auch niemals ganz wahr gewesen. Nun aber, da der
neue Krieg ausbrach, erinnerten sich die Offiziere des Regiments, von denen
damals noch keiner mitgefochten hat, der alten Schmach und sie haben vom Kaiser
die Gnade erbeten, mit dem eigenen Blute zu fühnen, was das Regiment vor
dreißig Jahren verschuldet haben soll. Sie haben verlangt, dorthin gestellt zu
werden, wo sie wohl den anderen von Rutzen sein können, wo aber ihr eigenes
Derderben unabwendbar ist, und haben einander zugeschworen, daß keiner von
ihnen die Heimat wiedersehen wird. Niemand kennt den Schuldigen, aber alle
wollen sie sühnen. Nur einer kennt ihn, dieser aber hat nie davon gesprochen.
Es ist Mariens kranker Dater und er gesteht ihr knapp vor seinem Code, daß er
es selber war, der durch seine Flucht die anderen mitgerissen hat. Er führte die
dritte Eskadron und hatte mit seinen Leuten zu warten. Seit vier Uhr morgens
saßen sie zu Pferd und mußten warten. Alle sehnten sich nach einem Befehl zum
Dorwärtsgehen und mußten warten. Eine Ewigkeit hundert Ewigkeiten...
Sie durften sich nicht rühren und mußten warten. Don Fern her donnerte es und
heulte es ... Aber sie wußten nicht, was geschah, und sie mußten warten ...
Da mit einem Male packte ihn, was er früher nie gekannt, die Angst ... eine
entsetzliche Angst und in diesem Augenblicke fühlte er, daß er noch nicht gelebt hat.
„Und ich wollt leben, wie andere dürfen ... eine Frau wollt' ich haben und
Kinder und leben! ... Und so rast' ich davon, die anderen mit mir, mir nach ..
vor mir ... überall ... davon ... davon ... Und so ist es geschehen, daß ich
heil zurückgekommen bin aus der Schlacht und ein Weib geheiratet hab', das mich
verachtet, und ein Kind gekriegt, das mich haßt . .. und so ist es gekommen, daß
heute die jungen Leute in den Tod ziehen, die ich nicht kenne, und daß ich noch
lebe mit neunundsiebzig und sie alle überleben werde “
Und wie Mariens Dater, sind auch die Offiziere, die in dem Stücke auftreten,
organisch mit der Handlung verknüpft und nicht allein dazu da, um das Wider¬
spiel von Tod und Leben in den verschiedensten Spiegelungen zu veranschaulichen.
Dom Obersten angefangen bis herab zum jüngsten Leutnant; jeder zeigt eine
andere Kehrseite von Heldenmut und Tapferkeit, von Lebenslust und „Überdruß,
und jeder tritt dem Tod anders entgegen. Anders der Oberst, der auf eine un¬
befriedigte Laufbahn zurückblickt, seinen tatenarmen Beruf als unwürdige Spielerei
empfindet und darum den Krieg als eine Erlösung begrüßt und Dorsorge trifft,
daß sein Regiment auch wirklich ins Feuer komme; anders der junge Leutnant, der
nicht einsieht, warum gerade sein Regiment durch freiwilligen Tod sühnen soll, was
andere verschuldet haben. „Keiner von allen, die damals kämpften und flohen, ist
mehr da; gegen einen anderen Feind zieh'n wir aus und für einen anderen Herrn;
die Fahne selber weiß nicht mehr, wer sie trug.“ Aber das heimliche Grauen vor
dem Ende ist ihnen allen gleich. Mag der eine den Tod suchen, der andere ihn
scheuen, magisch lockt der Ruf des Lebens. Und wenn ich den Sinn des Schau¬
spieles recht verstanden habe, so ist es der: wir alle, seien wir noch so mutig, noch
so unglücklich, sträuben uns dennoch gegen den Tod, wie sich das Kind sträubt,