II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 352

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19. Der Ruf des Lebens

S
peinlicher Gefangenschaft gehalten wird; ihm lauscht mit
wegstirbt. Dreimal hat sie bei ihren Kindern den Ruf des Tod
fiebernden Wangen das lungenkranke Mädchen, dem nur noch
feuilleton. 4047
vernommen; das hat ihre Seele geweitet und ihren kleine
eine kurze Lebensfrist gegönnt ist; ihn hören in verzehrender
bürgerlichen Verstand groß gemacht. In der Nähe des Todi
Leidenschaft „die blauen Kürassiere“ vom todgeweihten Regiment.
hört der Mensch auf, Gesetze zu geben. Dem jungen Kinde, de
hnitzler: Der Ruf des
Der Ruf des Lebens reißt alle Schranken nieder, er treibt jeden
bald von der Erde fort sein wird, gönnt seine Mutter da
Lebens.
hinaus aus ssinem engen Bezirk. Da flieht das Mädchen aus
Einzige: Leben, Erleben. So gütig predigt Schnitzler durch ein
der stickigen Krankenstube, da läuft die todeskranke Schöne im
führung im Deutschen Volks¬
schwache Mutter. Mit ein wenig lauterer Stimme, ein bißche
theater.
Ballkleid von einem Liebhaber zum nächsten, da lockt es den blauen
bewußter, aber noch immer wohltuend still predigt der Arzi
Kürassier, sein Soldatengewand auszuziehen und gegen den Tod in
Er befreit das Bürgermädchen aus dem Kerker der Kranken
dieses Werkes nimmt gefangen. Unsere
om großen Leben, was man ihnen nicht
Ehren das Leben in Lust einzutauschen. Der Ruf des Lebens
stube, er nimmt es ohne Erregung auf sich, daß die Tochte
ist das höchste Gesetz! Was bedeuten kranke Väter, was be¬
dem todessiechen Vater ein abkürzendes Gift eingegeben hat
im Marktlärm und Marktgestank hält's
deuten Sitte und Sittlichkeit, was bedeutet das bißchen Ehre,
nd alles künstlerische Schaffen braucht
Ihn, der ein ganzes Leben lang den Zweikampf zwischen Tol
wenn das Leben selbst versäumt werden könnte? Wann schallt
auschen ins Innere. Aber wenn sie schon
und Leben mitangesehen hat, dünkt alle Tragik heilbar, all
der Ruf des Lebens am lautesten? Gleich nachdem der Ruf
Tragik Nebensache: „Das Leben ist des Lebens Sinn.“ Der
Wege gehen müssen, so sollten sie
nach der anderen Welt fühlen! Es sollte
des Todes erklungen ist! Weil das Bürgermädchen fürchtet,
blaue Kürassier ist in der Schlacht gefallen und das trauernde
daß der Geliebte von den blauen Kürassieren heute Nacht in
das Weltgebrause leise zu ihnen herüber¬
Bürgermädchen glaubt, es habe nur eine Nacht gelebt und
die todbringende Schlacht ziehen muß, darum reißt sie sich alle
t isoliert, sondern durch zarte Fäden mit
kein Tag kann mehr für sie leuchten. Inn schwarzen Kleidern,
Hüllen der Sitte vom Leibe und gibt sich nackt dem heißesten
sein! Darum hat schon der Titel dieses
wie verloren in der Welt, geht sie durch ihren Garten. Eine#
Der Ruf des Lebens.
Leben preis. Weil die Lungenkranke weiß, daß ihr nur eine
Nacht lang hat sie dem Leben gehört, nun lauscht sie dem
kurze Spannzeit gegeben ist, darum vertanzt und verschwelgt
innerlichen Rufe des Todes. Sie kommt von einem Spazier¬
sie ihr bißchen Sein. Der Ruf des Todes erzeugt lebendigstes
aar Minuten im Theater, so freut man
gang. Von ihren schwarzen Kleidern heben sich ein paar
Leben, aber das glühendste Leben erzeugt den Tod! Dieses
n Bühnenschriftsteller hier wieder wagt,
blühende Feldblumen leuchtfarbig ab: Da steht nun der Arzt¬
Ineinanderverwebtsein der beiden großen Leitmotive, das macht
vor ihr und sie sagt ihm, wie sie sich hinübersehnt nach dem
sen. Jede Gestalt in diesem Drama spricht
Schnitzlers Dichtung so verführerisch.
rtes Deutsch, dessen Kargheit voll unter¬
anderen Ufer, nach dem Schattenreich. Der Arzt sieht nur auf.
f unseren Theatern wird für gewöhnlich
die leuchtenden Blüten in der lässig gesunkenen Hand
ste Wirklichkeitsdeutsch oder ein romantisches
Zu jungen Menschen dringt plötzlich der Ruf des Lebens
und sagt scheinbar bedeutungslos: „Aber diese Blumen
In dieser Dichtung hat Schnitzler die
und sie streifen Gesetze und Gebote ab, um nackt durch die
haben Sie gepflückt? ...“ Wie das Leben zum Leben
alladesken Kunstsprache und einem ganz
strömende Wirklichkeit zu schwimmen. Das ist der Inhalt des
verführt, das deutet Schnitzler schon in dieser zarten
hauchten Wirklichkeitsdeutsch gefunden. Es
Theaterstückes „Der Ruf des Lebens“. Aber Schnitzler war von
dichterisch gefühlten Szene an. Es ist ein prängender Sounen¬
Theater einmal wieder Freude am Worte
jeher nicht nur ein Dichter, sondern ein mildherziger, erfahrener,
tag. Die Felder stehen in strahlendem Gelb. Kinder (die kein
r bald vergißt man die Lust am Ausdruck,
sanfter Prediger. In allen seinen Werken wird ein Schicksal
Wort sprechen dürfen!) pflücken leuchtende Mohnblüten. Da sagt
uck, wie es sich für eine Dichtung geziemt,
nicht nur gemalt, sondern da ist immer auch ein gütiger alter
der Arzt: „Daß Sie hier über Felder und Wiesen spazieren
rsehen läßt.
Herr, der mit halblauter Stimme zu jedem tragischen Leben
gehen, daß Sie Blumen in der Hand haben, daß hinter dieseme
eine edle Predigt sagt. Niemals hat dieser lust= und leiderfahrene
Fenster eine Freundin Ihnen für ewig entschwindet, daß Sie
Prediger so sanfte, so betörende Worte gefunden wie im „Ruf
durchziehen dieses Stück: der Ruf des
hier mit mir reden unter dem leuchtenden Mittagshimmel, das
es Todes. Den Ruf des Lebens hört das des Lebens“. Hier ist eine Mutter, der das Herz im Leibe zuckt,
ist Leben! Wer weiß, ob Ihnen nicht später, viel später, einmal
von einem bos= und krankhaften Vater in weil ihr ein Kind nach dem anderen in seiner Blüte Jugend aus einem Tage wie der heutige der Ruf des Lebens viel reiner