II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 400

Das Leven hat den Rittmeister Moser gerufen, als
er an der Spitze seiner Reiter die Schlacht erwar¬
tete und ihn plötzlich die Angst packte; wie er da sein
aufbäumendes Roß umriß und davonjagte, die ganze
Reitesei hinter sich herziehend. Und jetzt noch nach
30 Jahren hält der 79jährige sich mit klammernden
Händen am Leben fest und hofft sein neunzigstes
Jahr zu erleben. Des Lebens Ruf erklingt vor allem
der 26jährigen Marie, die ihre Jugend an dem Kran¬
kenbette des alten, lebenszähen Vaters (Moser) ver¬
trauert. Er erklingt mit solcher Wucht, daß sie
durch die Strenge des Vaters, der ihr keine Minute
Freiheit gönnt und sie peinigt und quält, zum äußer¬
sten getrieben, sich den Weg zum Geliebten über die
Leiche des Vaters hinweg bahnt. Das Bewußtsein
ihres Rechtes auf Leben, Freude, Jugend ist so stark,
daß auch eine zweite Leiche ihr das Glück, den tod¬
geweihten Geliebten zu umarmen, nicht rauben kann.
Dem Ruf des Lebens endlich folgt die schwindsüchtige
Katharina, die die kurze Frist die ihr gegeben ist.
in einem Taumel von Leidenschaft durchjagt. Zu
diesen Beobachtungen des Arztes gesellte sich die
Bühnenvertrautheit des Theaterschriftstellers und
stellte wirksam Vatermord an den Schluß des ersten,
Gattenmord an den Schluß des zweiten und den
Tod der Schwindsüchtigen an den Schluß des dritten
Aktes. Aber der Dichter verklärte den allmächtigen
Teich Jum Leben und schuf vor allem den dritten
Akt, der voll wundersamer Poesie ist. Dieser letzte
Akt, der das Schicksal Katharinas erzählt und zu E
Ende führt, ist wie ein Märchen; wenn er auch an
theatralischer Wirksamkeit den beiden ersten nach¬
steht, so ragt er an poetischer Stimmung weit über
sie hinaus.
Der Oesterreicher Schnitzler mußte mit diesem:
Werke erst im Auslande sich Geltung verschaffen
(1. Aufführung 24. Feber 1906, Lessingtheater Ber¬
lin) und das Stück, das in Wien spielt, fand in
Oesterreichs Hauptstadt erst drei Jahre später Ein¬
gung (11. Dezember 1909, Deutsches Volkstheater,
Wien). Unsere Bühne, die in letzter Zeit einen
kleinen Aufschwung genommen hat und sich mit
Erfolg bemüht, das verlorene Vertrauen des Pub¬
likums wieder zu gewinnen, brachte das Stück in
ziemlich vorteilhaftem Gewande.
Die Hauptrolle (Marie Moser) hatte Frl.
Seipp inne. Die begabte, temperamentvolle
Schauspielerin war hervorragend im stummen Spiel;
mit Ausnahme der zweiten Hälfte des 1. Aktes ist die
Rolle ziemlich passiv. Da gilt es nun vor allem durch
Mienenspiel zu charakterisieren. Frl. Seipp gelang
es, die dumpfe Resignation so zur Darstellung zu
bringen, daß man darunter sehr wohl die Empörung
des jungen Blutes spüren konnte. Der Entschluß
zum Morde u. die Ausführung waren ein Meisterstück
mimischer Kunst, verschönt durch die Echtheit, denn
Frl. Seipp erlebte sichtlich alles mit eigenem Herz¬
biu: Weniger gelungen dagegen schien mir ihre
Sprechweise in der Szene mit dem Arzte (1. Akt),
weil ich bei hohem Pathos und deklamierendem Ton
stets die Echtheit der Empfindung vermisse. Den
alten Moser in seiner ganzen Verbitterung und
Härte, mit allem Argwohn und Mißtrauen zeichnete
Herr Revy mit sehr gutem Verständnis. In hin¬
reißender Weise beseelte Frl. Kroneck die schwind¬
süchtige Katharine. Es ist nicht unmöglich, daß der
Dichter die Gestalt gar nicht so märchenhaft ver¬
geistigt gedacht hat, als Frl. Kroneck sie darstellte.
Es war, als schwebte da eines Kindes Seele ganz
ohne Körper vor uns. In blütenweißem Gewande
erscheint sie mit bleichen Wangen, den Tod in den
Augen, und spricht mit einer Stimme, die aus einer
anderen Welt zu kommen scheint, von ihrem Märchen¬
prinzen und von dem Wagen, der mit sechs Schim¬
meln bespannt auf sie wartet. Und wie sie tot zu¬
sammenbricht, da ist es wieder, als ob es kein Körper
wäre, als ob eine Blüte vom Baum langsam herab¬
rieselte. Ich mußte an Gerhart Hauptmnan denken.
Herr Riemann gab den jungen Offizier, den
Marie liebt; er hat zwei bedeutungsvolle Szenen:
eine mit seinem Obersten, dessen Frau die Geliebte
des Offiziers geworden ist, und eine mit dieser Frau.
In der ersten Szene fiel die große Ruhe und Ent¬

frau zugefallen war, svielte mit großer Wärme und
echtem Gefühl. Die übrigen Mitwirtenden, Frl.
Böhm und die Herren Rubel (bis auf die un¬
leidliche Deklanmtion in der Szene mit Marie im
1. Akt), Jäger, Sille, Burger und Mand:
wurden ihren Aufgaben gerecht.
Für die Svielleitung zeichnete Herr Direktor
Klein; wie viel von der innerlichen Auffassung
der Rollen auf seine Rechnung zu setzen ist, entzieht
sich unserer Beobacktung; in Aeußerlichkeiten erwies
er sich teilweise als ungeschickt, so insbesondere mit
der elektrischen Lampe mit fast durchsichtigem Glas¬
schirm, die sehr blend#te und die Schauspieler im
Dunkeln erscheinen ließ.
Der Besuch war ziemlich gut; die Einführung
literarischer Abende ist sehr zu begrüßen.
Dr. B.