19. Der Ruf des Lebens box 24/5
11. OKTOGER 1914
vom:
g Wiaue Jpurnal, In
#Thrater und Kunst.
(Deutsches Volkstheater.) Ueber Schnitzlers Schau¬
spiel „Der Ruf des Lebens“ breiten sich die Schatten
von Krieg, Schlacht und Tod. Hier sind, vom zeitlichen
Erlebnis weg, die letzten Zusammenhänge aufgespürt, die zwischen
einer äußerlichen Gebärde und einem inneren Trieb bestehen. Die
blauen Kürassiere reiten in den Tod. Das Regiment ist einst vor
dem Feind in einem Entscheidungskampf feig geflohen und die
Offiziere wollen die Schmach, die ihre Väter auf sich geladen
Thaben, mit ihrem Blute sühnen. Sie haben den Schwur geleistet,
daß keiner von ihnen lebend zurückkehre. Das ist der prachtvolle
Aufklang dieses Schauspiels, ein Massenschrei der Sebit¬
vernichtung, der
scheinbar keinen Unterton durdh slägt.
Aber was Gesamtschicksal wird, hat aus dem Einzelschicksal
Nahrung und Schwungkrast erfahren. Der Oberst des Regiments hat
jenen Schwur nur geleistet, um einen glanzvollen Abgang aus
dem Leben zu finden; seine Frau betrügt ihn, und ehe er in den
Tod reitet, schießt er sie vor den Augen des jungen Offiziers
nieder, mit dem sie ihm die Ehe brach. Das Leben ist kompli¬
zierter als der Tod. Jener junge Offizier war die Sehn¬
sucht und der Traum einer anderen, eines Mädchens, dessen
Vater einmal mit seiner Eskadron jeue schmähliche Flucht des
Regiments verschuldete. Der Alte, der alle die Jungen überleben
will, die sich für seine einstige Feigheit aufopfern werden, hat das
Mädchen tyrannisch von aller Welt abgeschlossen. Ihr Blut treibt!
sie zu dem Offizier, den sie einst flüchtig kennen lernte, aber der
Vater steht ihr im Wege. Das Leben ruft, aber sie kann dem
Ruf nicht folgen. Und nun ist die entscheidende Stunde da:
morgen geht der Geliebte in den Krieg, morgen ist er ewig für
sie verloren. Da tötet sie den Vater und eilt in die Wohnung
des Offiziers, um sich ihm hinzugeben, in diese Nacht alles Glück,
ihres ganzen Lebens zu drängen. Und als sie bei ihm ist, ist auch
die andere dort, die Frau des Obersten; es fällt jener Schuß des
rächenden Gatten. Trotzdem bleibt sie bei dem Geliebten, aber als er
in der Morgenfrühe ausreitet, wird es leer und kalt in ihr und um sie.
Sie weiß, fühlt, daß sie diesem Manne, um dessentwillen sie ge¬
mordet hit, nichts bedeutete, daß er nun hingehen wird, um sich
für eine andere zu töten. Dieses Schauspiel hätte das
stärksie und gehaltvollste unter Artur Schnitzlers Werken
werden können. Es ist reich an Kraft und lebens¬
voller Gestaltung;
ed hat Größeuverhältnisse und einen
wunderschönen Fernblick zum Weltgeschehen. Aber es hält nicht
stand. Es zerbröckelt durch die pspchologischen Unterminierungen, is über¬
laden mit wortretchen Gedankengängen, wird von dichterischen Hysterien
geschüttelt, die wieder fernab vom Wesentlichen liegen. Es sind
zum Schluß nur Schattenrisse da, die sich auf einem gewaltigen
Vorhang bewegen. Aber man wird dennoch von dem innerlichen
Reichtum des Schauspiels gepackt, das wie eine große Verheißung
dasteht, und man beklagt doppelt die Ueberspannung, die den Zu¬
sammenbruch verschuldete. Zwischen dem Dunkel und der Helle
dieses Stückes hält die Darstellung häufig verlegen inne. Die Ueber¬
gänge sind oft jäh und es fließt nicht alles ineinander. Für Frau
Erika Wagner ist das Glückverlangen zuweilen nur Pathetik;
für Fräulein Steinsieck die Leidenschaftlichkeit nur eine rednerische
Hast. Frau Wagner trifft freilich auch den Ausdruck stillen Leids
Der Oberst des Herrn Kramer ist mehr als Theaterfigur an¬
gelegt, zu einer wirksamen allerdings, die der Plastik äußerlich
Rechnung trägt. Den alten, tyrannischen Vater spielt Herr
Lackner mit einem Uebermaß an Wucht; er zerlegt den Charakter
zu wenig, gibt ihm noch nicht die gebrochene Linie. Onno, Edt¬
hoser, Kutschera, Klitsch, Fräulein Bukovics und Frau Thaller
elfüllen ihre Aufgaben mit schönem Eiser. Stück und Dar¬
D8—
stellung erfreuten sich einer stürmischen Aufnahme.
Neue
Ausschnitt aus:
Neue Frét.
11.947.1974
vom:
Theater= und Kunstnachrichten.
Wien, 10. Oktober.
[Deutsches Volkstheater.] In Artur Schnitzlers
dichterischem Werk ist der Krieg eine ständige Einrichtung. Er
ist es als eine Organisation des Todes, jenes anderen Poles
der Schnitzlerscher. Welt, die zwischen Liebe und Vernichtung
nach dem ihr innewohnenden Gesetze kreist. Man hat, durch
die jüngsten Eceignisse angeregt,
diese Zusammenhänge
neuestens zum Gegenstand einer eingehenden literarischen
Untersuchung gemacht und zu ergründen versucht, wie viel an
Kriegsgedanken und =motiven die einzelnen Dramen und
Novellen des Dichters enthalten. Die Anklänge sind zahlreich
und der Schluß liegt nahe, daß sich einige seiner Stücke, in
denen der Krieg besonders stark zum Ausdruck kommt, für
Kriegszeiten vorzüglich eignen müssen. Diese Folgerung hat sich
heute, was den „Ruf des Lebens“ betrifft, als durchaus
gerechtfertigt erwiesen. Das Stück wurde, teilweise neu besetzt
und leider auch neu inszeniert, wieder aufgeführt und übte auf
ein in seiner psychischen Grunddisposition ganz verändertes
Publikum seine unveränderte poetische Wirkung. Freilich ver¬
dankte es diese nicht den vielen kriegerischen Hornsignalen, mit
denen der Oberregisseur Kramer auch diesmal wieder nicht
sparte, noch auch dem erfundenen Krieg, dessen sich über¬
stürzende Wirkungen den zweiten Akt zu einer tragschen Bur¬
leske machen. Im Gegenteil, dieser erfundene Krieg, der etwas
phantastisch Erträumtes hat, verlor im Rahmen des Wirklichen,
der jetzt jedes Bühnenbild einschließt, viel von seiner schein¬
baren Wirklichkeit, und gerade seine Unwirklichkeit läßt den
poetischen Inhalt des Dramas deutlicher und ergreisender
in
den
hervortreten. Dessen Reiz beruht nicht
abenteuerlichen Verschränkungen der Handlung, sondern in
dem menschlichen Wert der Gestalten, die einem, je öfter man
ihnen begegnet, um so lieber werden. Eine
schöne, reise
Menschlichkeit geht gelassen durch die aufgeregte Szenenfolge,
wie ein Weiser durch ein Gedränge, und sammelt sich im
dritten Akt zu einem tiefelegischen Rückblick. In diesem Akt
fand auch die Darstellerin der Marie, Frau Erika v. Wagner,
den richtigen Ton anspruchsloser Innigkeit, auf den sie ihre
Rolle auch in den ersten Akten stimmen mußte. Margarete
Steinsieck als Irene wirkte durch theatralisches Feuer und
ihre liebenswürdigen Mittel; Herr Onno, als ihr Partner,
spielt seine exaltierte Szene virtuos, während in den voran¬
gehenden Auftritten wiederum, wie fast immer, sein um jeden
Preis superlativisches Wesen peinlich stört. Sehr echt, öster¬
reichisch anmutig und warm präsentiert sich der Adjunkt des
Herrn Edthofer, freundlich Herr Kutschera als Arzt,
Herr Kramar ist ein martialischer Oberst, dem es nur an
der wünschenswerten Dämonie für die übrigens sehr schwierige
Rolle gebricht. Herr Lackner schließlich, der den bösen alten
Mann spielt, charakterisiert rechtschaffen, wenn auch etwas roh,
die Gestalt des senilen Egoisten, die, vom Dichter mit liebe¬
voller Sorgfalt modelliert, nach einer nuancierteren Dar¬
A.
stellung verlangt.
11. OKTOGER 1914
vom:
g Wiaue Jpurnal, In
#Thrater und Kunst.
(Deutsches Volkstheater.) Ueber Schnitzlers Schau¬
spiel „Der Ruf des Lebens“ breiten sich die Schatten
von Krieg, Schlacht und Tod. Hier sind, vom zeitlichen
Erlebnis weg, die letzten Zusammenhänge aufgespürt, die zwischen
einer äußerlichen Gebärde und einem inneren Trieb bestehen. Die
blauen Kürassiere reiten in den Tod. Das Regiment ist einst vor
dem Feind in einem Entscheidungskampf feig geflohen und die
Offiziere wollen die Schmach, die ihre Väter auf sich geladen
Thaben, mit ihrem Blute sühnen. Sie haben den Schwur geleistet,
daß keiner von ihnen lebend zurückkehre. Das ist der prachtvolle
Aufklang dieses Schauspiels, ein Massenschrei der Sebit¬
vernichtung, der
scheinbar keinen Unterton durdh slägt.
Aber was Gesamtschicksal wird, hat aus dem Einzelschicksal
Nahrung und Schwungkrast erfahren. Der Oberst des Regiments hat
jenen Schwur nur geleistet, um einen glanzvollen Abgang aus
dem Leben zu finden; seine Frau betrügt ihn, und ehe er in den
Tod reitet, schießt er sie vor den Augen des jungen Offiziers
nieder, mit dem sie ihm die Ehe brach. Das Leben ist kompli¬
zierter als der Tod. Jener junge Offizier war die Sehn¬
sucht und der Traum einer anderen, eines Mädchens, dessen
Vater einmal mit seiner Eskadron jeue schmähliche Flucht des
Regiments verschuldete. Der Alte, der alle die Jungen überleben
will, die sich für seine einstige Feigheit aufopfern werden, hat das
Mädchen tyrannisch von aller Welt abgeschlossen. Ihr Blut treibt!
sie zu dem Offizier, den sie einst flüchtig kennen lernte, aber der
Vater steht ihr im Wege. Das Leben ruft, aber sie kann dem
Ruf nicht folgen. Und nun ist die entscheidende Stunde da:
morgen geht der Geliebte in den Krieg, morgen ist er ewig für
sie verloren. Da tötet sie den Vater und eilt in die Wohnung
des Offiziers, um sich ihm hinzugeben, in diese Nacht alles Glück,
ihres ganzen Lebens zu drängen. Und als sie bei ihm ist, ist auch
die andere dort, die Frau des Obersten; es fällt jener Schuß des
rächenden Gatten. Trotzdem bleibt sie bei dem Geliebten, aber als er
in der Morgenfrühe ausreitet, wird es leer und kalt in ihr und um sie.
Sie weiß, fühlt, daß sie diesem Manne, um dessentwillen sie ge¬
mordet hit, nichts bedeutete, daß er nun hingehen wird, um sich
für eine andere zu töten. Dieses Schauspiel hätte das
stärksie und gehaltvollste unter Artur Schnitzlers Werken
werden können. Es ist reich an Kraft und lebens¬
voller Gestaltung;
ed hat Größeuverhältnisse und einen
wunderschönen Fernblick zum Weltgeschehen. Aber es hält nicht
stand. Es zerbröckelt durch die pspchologischen Unterminierungen, is über¬
laden mit wortretchen Gedankengängen, wird von dichterischen Hysterien
geschüttelt, die wieder fernab vom Wesentlichen liegen. Es sind
zum Schluß nur Schattenrisse da, die sich auf einem gewaltigen
Vorhang bewegen. Aber man wird dennoch von dem innerlichen
Reichtum des Schauspiels gepackt, das wie eine große Verheißung
dasteht, und man beklagt doppelt die Ueberspannung, die den Zu¬
sammenbruch verschuldete. Zwischen dem Dunkel und der Helle
dieses Stückes hält die Darstellung häufig verlegen inne. Die Ueber¬
gänge sind oft jäh und es fließt nicht alles ineinander. Für Frau
Erika Wagner ist das Glückverlangen zuweilen nur Pathetik;
für Fräulein Steinsieck die Leidenschaftlichkeit nur eine rednerische
Hast. Frau Wagner trifft freilich auch den Ausdruck stillen Leids
Der Oberst des Herrn Kramer ist mehr als Theaterfigur an¬
gelegt, zu einer wirksamen allerdings, die der Plastik äußerlich
Rechnung trägt. Den alten, tyrannischen Vater spielt Herr
Lackner mit einem Uebermaß an Wucht; er zerlegt den Charakter
zu wenig, gibt ihm noch nicht die gebrochene Linie. Onno, Edt¬
hoser, Kutschera, Klitsch, Fräulein Bukovics und Frau Thaller
elfüllen ihre Aufgaben mit schönem Eiser. Stück und Dar¬
D8—
stellung erfreuten sich einer stürmischen Aufnahme.
Neue
Ausschnitt aus:
Neue Frét.
11.947.1974
vom:
Theater= und Kunstnachrichten.
Wien, 10. Oktober.
[Deutsches Volkstheater.] In Artur Schnitzlers
dichterischem Werk ist der Krieg eine ständige Einrichtung. Er
ist es als eine Organisation des Todes, jenes anderen Poles
der Schnitzlerscher. Welt, die zwischen Liebe und Vernichtung
nach dem ihr innewohnenden Gesetze kreist. Man hat, durch
die jüngsten Eceignisse angeregt,
diese Zusammenhänge
neuestens zum Gegenstand einer eingehenden literarischen
Untersuchung gemacht und zu ergründen versucht, wie viel an
Kriegsgedanken und =motiven die einzelnen Dramen und
Novellen des Dichters enthalten. Die Anklänge sind zahlreich
und der Schluß liegt nahe, daß sich einige seiner Stücke, in
denen der Krieg besonders stark zum Ausdruck kommt, für
Kriegszeiten vorzüglich eignen müssen. Diese Folgerung hat sich
heute, was den „Ruf des Lebens“ betrifft, als durchaus
gerechtfertigt erwiesen. Das Stück wurde, teilweise neu besetzt
und leider auch neu inszeniert, wieder aufgeführt und übte auf
ein in seiner psychischen Grunddisposition ganz verändertes
Publikum seine unveränderte poetische Wirkung. Freilich ver¬
dankte es diese nicht den vielen kriegerischen Hornsignalen, mit
denen der Oberregisseur Kramer auch diesmal wieder nicht
sparte, noch auch dem erfundenen Krieg, dessen sich über¬
stürzende Wirkungen den zweiten Akt zu einer tragschen Bur¬
leske machen. Im Gegenteil, dieser erfundene Krieg, der etwas
phantastisch Erträumtes hat, verlor im Rahmen des Wirklichen,
der jetzt jedes Bühnenbild einschließt, viel von seiner schein¬
baren Wirklichkeit, und gerade seine Unwirklichkeit läßt den
poetischen Inhalt des Dramas deutlicher und ergreisender
in
den
hervortreten. Dessen Reiz beruht nicht
abenteuerlichen Verschränkungen der Handlung, sondern in
dem menschlichen Wert der Gestalten, die einem, je öfter man
ihnen begegnet, um so lieber werden. Eine
schöne, reise
Menschlichkeit geht gelassen durch die aufgeregte Szenenfolge,
wie ein Weiser durch ein Gedränge, und sammelt sich im
dritten Akt zu einem tiefelegischen Rückblick. In diesem Akt
fand auch die Darstellerin der Marie, Frau Erika v. Wagner,
den richtigen Ton anspruchsloser Innigkeit, auf den sie ihre
Rolle auch in den ersten Akten stimmen mußte. Margarete
Steinsieck als Irene wirkte durch theatralisches Feuer und
ihre liebenswürdigen Mittel; Herr Onno, als ihr Partner,
spielt seine exaltierte Szene virtuos, während in den voran¬
gehenden Auftritten wiederum, wie fast immer, sein um jeden
Preis superlativisches Wesen peinlich stört. Sehr echt, öster¬
reichisch anmutig und warm präsentiert sich der Adjunkt des
Herrn Edthofer, freundlich Herr Kutschera als Arzt,
Herr Kramar ist ein martialischer Oberst, dem es nur an
der wünschenswerten Dämonie für die übrigens sehr schwierige
Rolle gebricht. Herr Lackner schließlich, der den bösen alten
Mann spielt, charakterisiert rechtschaffen, wenn auch etwas roh,
die Gestalt des senilen Egoisten, die, vom Dichter mit liebe¬
voller Sorgfalt modelliert, nach einer nuancierteren Dar¬
A.
stellung verlangt.