II, Theaterstücke 18, Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten (Junggeselle, Junggesellenstück, Die Egoisten, Einsame Wege, Wege ins Dunkle, Weg zum Licht), Seite 187

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18. Der einsane Neg
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eingegangen war. Da ist eine ehemalige Schauspielerin
Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten von
Irene Herms, die der eben genannte Maler um dieses
Arthur Schnitzler. (Berlin 1904 S. Fischer, Verlag.)“
Liebesverhältnisses willen weggejagt hatte, obwohl er
Sollte Schntzlers neuestes Schauspiel im Theater mit
auch zu ihr vorher die intimsten Beziehungen unterhalten
eisiger Kälte aufgenommen werden, so würde hierin nicht
hatte. Da ist eine Tochter — Johanna — des Professors
nur ein rein ästhetisches Urteil, sondern auch ein Protest
Wegrath, welche den unangenehmen Vorzug einer Art
des praktischen Lebensinstinktes liegen, der Protest näm¬
Hellseherei in betreff baldigen Todes der ihr nahestehen¬
lich gegen die These des Stückes, daß wir Menschen alle
den Personen besitzt und sich unglücklicherweise in einen
einsam aneinander vorübergehen, daß auch die in schein¬
Herrn von Sala verliebt hat, von dem sie voraus weiß,
bar intimsten Beziehungen lebenden Liebesleute, die Ehe¬
daß er in wenigen Wochen sterben muß. Sie geht ihm
gatten, die Eltern und Kinder, Jugendfreunde usw. doch
folglich im Tode voran, indem sie sich im Teich seiner
wie in Masken gehüllte, einander nie ganz verstehende,
Villa ertränkt. Auch den zwischen dem ersten und dem
nur ihr eigenes Dasein lebende Sondereristenzen schatten¬
zweiten Akt erfolgenden Tod ihrer Mutter hat sie vor¬
haft aneinander vorübergleiten. Es ist dies eine These,
ausgesehen. Durch diese Todesfälle und die sonstigen
die in den Vordergrund zu stellen in neuerer Zeit bei
Beziehungen der Personen untereinander werden natür¬
Dichtern und Philosophen Mode geworden ist. Daß sie
lich auch die Lebenspfade des Professors und seines Soh¬
wahr sei, wird jedoch der praktische Lebensinstinkt der
nes Felix einsame. Und am allermeiisten leidet unter der
Menschen namentlich an Orten, wo, wie im Theater,
einsamen Lebenswanderung der Maler Julian Fichtner,
durch das Beisammensein Vieler das Gemeingefühl erhöht
der umsonst versucht hat, seinen illegitimen Sohn Feli
ist, niemals zugeben. Und sie ist wohl auch nur halb¬

sich zu erobern. Der Titel des Schauspiels ist also durch
wahr. Es wird im ganzen bei dem Sprüchlein des Harf¬
die Handlung und durch sämtliche Hauptpersonen mehr
ners im „Wilhelm Meister“ sein Bewenden haben:
als genügend gerechtfertigt. Aber da man nur zu sehr
„Wer sich der Einsamkeit ergibt,
spürt, daß der Dichter uns mit den absonderlichsten Ein¬
Ol der ist bald allein,
zelfällen jene bereits erwähnte These in verallgemeinern¬
Ein jeder lebt, ein jeder liebt
dem Sinne zu Gemüt führen möchte, lehnt man auch
Und läßt ihn seiner Pein.“
diese Einzelfälle mit Achselzucken ab: „Es ist ja möglich,
daß dergleichen vorkommt, aber, wenn wir denn schon,
Wer aber guten Mutes in einem tätigen Leben steht,
nach des Dichters Meinung, alle mehr oder weniger
für sich und die Seinen sich sorgt und ringt und arbei¬
allein durchs Leben gehende Menschen sind, so wollen
tet, der wird in seinem Gefühl wenigstens diese Isoliert¬
wir uns jedenfalls um das Wohl und Wehe der Leute
heit der Einzelexistenz niemals empfinden, selbst wenn er
dieses seines Stückes am allerwenigsten bekümmern, den
ihre Wahrheit mit dem Verstand sollte anerkennen müssen.
Anfang im Vorüberschreiten an andern Existenzen mit
Höchstens für die allerletzte Lebensfunktion wird man sie
dieser unerquicklichen Familie und ihren Freunden machen.“
zugeben — fürs Sterben. Das muß jeder allein ab¬
Mit alledem soll die dichterische Schönheit einzelner
machen, da stehen seine Lieben wohl um ihn herum,
Szenen nicht verkannt werden. Der große Auftritt z. B.
sind aber tatsächlich wie durch eine ganze Welt von dem
zwischen Felix und dem Maler Julian Fichtner im zwei¬
Sterbenden geschieden, der seinen letzten Weg allerdings
#ten Akt ist meisterlich. Wie da der Sohn vor einem Ju¬
einsam geht. Sonst jedoch wird nur der melancholische
gendbildnisse, das Fichtner von Felix' Mutter gemalt
Misanthrop an der Betrachtung dieser These ein gewisses
hatte, nach und nach die innere Überzeugung gewinnt,
Wohlgefallen haben. Die große Mehrheit der Menschen
der Maler müsse seine Mutter geliebt haben und er,
will von ihr nichts wissen, weil sie im besten Falle eine
Felix, müsse der Sohn des Malers sein — das ist so
unfruchtbare Erkenntnis bleibt, etwa zu vergleichen ge¬
zart und fein und entwickelt sich so psychologisch wahr,
wissen Belehrungen über die leiblichen Funktionen, die
man möchte sagen: so organisch, daß man an Goethe'sche
beim Einschlafen stattfinden, z. B. daß die Augen schielend
sich nach dem Nasenwinkel kehren infolge einer Erschlaf¬
Dialogszenen erinnert wird z. B. an den herrlichen Auf¬
tritt, in dem Marianne (in den „Geschwistern“), ohne
fung ihrer Streckmuskeln. Dies nicht zu wissen, ist fürs
selbst zu ahnen, was sie tut, dem vermeintlichen Bruder
Einschlafen förderlicher, als wenn man die physiologische
ihre mehr als schwesterliche Liebe enthüllt. Ebenso wird
Tatsache kennt und sich beim Einschlafen ihrer erinnert,
auf sie Obacht gibt.
man in allen fünf Akten manches tiefsinnige Lebenswort
entdecken. Und so sagt man sich zuletzt, daß ein Stück
Unwillkürlich wird nun aber dieser Protest des prak¬
eines guten Dichters, wenn es einem als Ganzes auch
tischen Lebensinstinktes gegen die unangenehme These des
nicht gefällt, doch immer noch interessant bleibt und seine
Schnitzlerschen Stückes auch das ästhetische Urteil über
Einzelwerte hat, die seine Existenzberechtigung ausmachen.
das Stück beeinflussen, so daß diesem Schauspiel kaum
Und wundern wird man sich schon gar nicht, daß der
ein guter Theatererfolg beschieden sein dürfte. Das zwar
Dichter, der einst mit so tollen, bei aller Satire von
wird man anerkennen müssen, daß der Dichter auf ge¬
Lebenslust überschäumenden Bildern aus dem Fasching
schickte Weise zu demonstrieren gewußt hat, wie alle Per¬
des Lebens debütierte, nun ein so melancholisch graues
sonen seines Schauspiels ihren Weg einsam gehen. Aber
Aschermittwochsstück geschrieben hat; das ist ja der nor¬
welche unerfreulichen Verhältnisse hat er zu diesem Zwecke
male Lauf — von Salomos tausend Weibern zur Pre¬
erfinden und ausklügeln müssen! Da ist Professor Weg¬
digt: Alles ist eitel!
rath seit 23 Jahren mit seiner Frau verheiratet, ohne
von ihr oder von sonst jemand erfahren zu haben, daß
sein ältester Sohn Felix in Wirklichkeit der Sohn eines
Malers Julian Fichtner ist, der in der Brautzeit der
Frau Wegrath mit ihr ein Liebesverhältnis hatte, das
er aus Feigheit ebenso heimlich löste, wie er es heimlich
* Diese Kritik wurde vor der Uraufführung im Deutschen
Theater in Berlin geschrieben; nach den Berichten der Zeitungen
ergab sich kein Erfolg. Die Red.