II, Theaterstücke 18, Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten (Junggeselle, Junggesellenstück, Die Egoisten, Einsame Wege, Wege ins Dunkle, Weg zum Licht), Seite 330


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Fremden-Blatt.
Wien. Mittwoch
Nr. 134.
Das feinfühlerische, nervenhorcherische Wesen, das bereits die
Schwingungen, die Wellenlängen jedes einzelnen Gefühls zählt, wie
Feuilleton.
der Physiker die des roten Lichtes oder des Vierundsechzigsteltones,
dichtet auch Dramen, wie diesen „einsamen Weg“, dessen Inhalt
Theater an der Wien.
man mit dem kürzesten Worte „Sesenheimische Geschicke“ nennen
kann. Man muß die umständliche Beichte hören, die Vater Julian
Gastspiel des Berliner Lessing=Theaters: „Der einsame Weg“, Schauspiel
dem Sohne Felix ablegt. Wie er seine Empfindungen vor, wahrend
in fünf Akten von Arthur Schnitzler.
und nach dem schmählichen Liebesverrat in allen Schattierungen
Das ist eine seltsam leise, tief nachdenkliche, aus Narkosen von
feststellt. Es ist eine menschliche Urkunde; dagegen ist kein Streitens.
Versonnenheiten plötzlich auffahrende Dichtung. Schwere Bangig¬
Er bekennt aufrichtig, es sei die glücklichste, frischeste, freieste,
keiten lasten auf ihr, stille Schrecken lauern, so viel Uneingestandenes
fruchtbarste Zeit seines Lebens gewesen, die nach seiner Flucht.
drängt zum Geständnis, mit so fremden Gesichtern schauen uns die
Als es ihm glücklich gelungen war, Gabrielen schmählich sitzen
bekannten Dinge an, so verworren ist die Verwirrung, deren an¬
zu lassen. Und Gabriele? Es war ihr tiefstes Elend, natürlich;
deutende Abbildung der Dichter versucht hat, und ringsum liegt das
aber trotzdem ihr höchstes Glück, von dem sie dem Sohne noch in
Pfadlose, voraus liegt das Aussichtslose. Es ist ein Gebilde von
den letzten Augenblicken ihres Lebens Schwärmendes vorgefaselt.
Sehnsucht und Traurigkeit. Es sind Menschen, die das Menschliche
Das ist der Speer des Achilles, der Wunden schlägt und wieder
ergeben hinnehmen, die sich nichts mehr einreden, die auch nichts be¬
heilt. Gibt es auf diesem Gebiete ein Verbrechen? Braucht ein Ver¬
reuen, einander nichts vorwerfen; desillusionierte Menschen, weltlich
brechen Sühne, das selbst der geschädigte Teil nicht ungeschehen
skeptische; überlegene Egoismen, Selbstleber ohne empfindsames Vor¬
wissen möchte? Das ewige Sesenheim.... Auch Johanna, das
urteil. Menschen, die überwunden haben, oder vielmehr in dieser
stille, starke Mädchen, gibt sich Herrn v. Sala, obgleich sie weiß,
Täuschung befangen sind, und eigentlich doch alle nichts anderes
daß er bald sterben muß. Sie weiß, daß Menschen einander über¬
als verfehlte Existenzen. So ist das Leben. Sie verbringen es im
haupt nichts sein, oder werden, oder bleiben können, als eine Er¬
vertrautesten Verein und wissen doch nichts von einander. Sie können
innerung. Er bietet ihr sogar die Ehe an; sie fühlt ein ungeheures
sich nicht erraten, nicht deuten, nicht auflnacken; leben von den kleinen
Glück und schweigt... und geht in den Teich. Und er, dessen ohne¬
Zugeständnissen und Hehlereien des Augenblicks; fristen sich von Not¬
hin ein Siechtum harrt, tötet sich. Sie schätzen das Leben nicht,
lüge zu Notlüge fort und sind schließlich in aller herkömmlichen, als
diese ganze Gesellschaft mit dem Schlagworte des Auslebens. Wo
hochanständig geltenden Form maßlos unmenschlich und gemein ge¬
einer sogar sagt, es sei Pflicht, alles Gute und alles Schurkische zu
wesen. Ich gegen Ich, Ego mit seinem Egoismus im Triumph
begehen, das man innerhalb seiner Fähigkeiten spürt. Nun wollen
einherfahrend, über ungezählte, unbeachtete Leichen von anderen Egos
wir nur sehen, ob Herr v. Sala Recht hat mit dem heranwachsenden
mit schwächeren Egoismen ...
besseren Geschlecht, das mehr Haltung und weniger Geist hat. Es
Doch es ist Rache unter den Sternen. Die zwei glänzenden,
kann schon etwas Wahres daran sein. Vielleicht haben wir schon
sieggewohnten Selbstlinge, die da am Schlusse sich gegenseitig beichten,
viel zu ästhetisch gelebt, zu artistisch, zu durchtrieben „in Schönheit“.
was sie alles als unbedenkliche Weltkinder verbrochen haben, stehen
Und nun will die Erdachse des Herzens ihre Richtung ändern und
vor dem kalten, finsteren Nichts. Der geniale Maler Julian Fichtner,
wir werden einen anderen Polarstern erblicken.
der sich in Unstätheit verbummelt hat, kehrt bloß heim, um sich vor
Man konnte wirklich gespannt sein, wie dieses feingesponnene,
seinem Sohne Felix, der als Sohn des Professors Wegrath gilt, zu
in fast heimlichen Durchkreuzungen und Parallelismen angelegte
rechtfertigen. Um sich gleichsam von ihm adoptieren zu lassen, als
Stück sich auf der Bühne ausnehmen würde. Schnitzler hat sich eine
rechtmäßiger oder mindestens physiologischer Vater etwas von seiner
eigene Spielart von Dramen geschaffen. Die spielbare Novelle, das
Liebe zu ergattern. Doch vergebens das Werben. Seine Geständnisse
aufführbare Tagebuch, das szenierte Selbstbekenntnis, den dialogi¬
rücken ihm den Sohn nur ferner und nähern ihn dem guten,
sierten Monolog. Im „Einsamen Weg“ schillert es von dergleichen.
ahnungslosen Nährvater, dem von ihnen allen sein Leben lang
Ibsen ist dagegen ein Realpolitiker der Bühnenwirkung. Aber die
betrogenen Professor. Ihm wird nichts anderes übrig bleiben, als
Dichtung hat ihren eigenen Stil, der sich langsam im Zuschauerraum
der einsame Weg, hinaus in die Oede. Und der andere Selbst¬
verbreitet, sich als Stimmung auferlegt. Der Eindruck steigt von
herrliche, der brillante Herr v. Sala, der spöttisch lächelnde Herz¬
Akt zu Akt.
kranke, der soeben heimlich das trotzige Mädchen Johanna gewonnen
Vom zweiten Aktschluß an, wo Felix erkennt, wer er ist, hatie
hat, die Tochter jener Frau Professor, die einst vom Maler Julian
der Dichter seine Hervorrufe; laute und zahlreiche. Starke Stim¬
erobert worden — dieser Todeskandidat, unter drei oder vier Todes¬
mungen stellen sich ein. Im vierten Aufzug, in dieser sichtlich zu Ende
kandidaten des Stückes, in dem viel Leben und Sterben durcheinander
welkenden Herbstszene, wo der eine alte Lebemann dem anderen
wuchert — dieser impermeabel Ausgepichte und dreimal Ausgeglühte,
die Wahrheit der Wahrheiten sagt. Und Johannas heim¬
der elegante Stoiker für die Welt, wie sie nun einmal ist, derselbige liest
licher Liebestod, wie er unter unheimlichen Spannungen sich langsam
nun dem bitter gedämpften Sohnsucher den Text, der auch ihm selber gilt.
offenbart. Und Salas, des Lebemannes, bitterer Abschied vom Leben.
Haben, wir denn je geliebt? „Lieben heißt für jemand andern auf
Der Anteil des Zuschauers war ungewöhnlich tief, bis an den
der Welt sein.“ Davon waren sie beide gleich fern, der Unterschied
Schluß. Dennoch erschienen auf der Bühne gewisse Hauptsachen, die
ist nur, daß der Maler „etwas wehleidiger“ ist als Herr v. Sala.
im Lesen einleuchten, etwas mehr konstruiert. Es liegt vielleicht mit
Sala ist gewiß ein Philosoph; ein Weltweiser für die Welt, die
an der Darstellung, die hier den Dichter im Stich ließ. Schon
nicht weise ist. Er hat längst seine Schlußrechnung beendet und sich
Herrn Stieler (Felix) glaubt man, bei seinem völligen Mangel
mit dem großen Fehlbetrag abgefunden, als mit einer verdrießlichen
an Lyrik, also auch an prophetisch ahnendem Wesen, keineswegs,
Unvermeidlichkeit. Er kann ja nichts dafür, daß er nichts dafür kann.
daß der blutjunge Leutnant Herrn Julian einen so schwierigen
Er ist ein Mensch ... und der ist besten Falles ein halber Ueber¬
Indizienbeweis der Vaterschaft zusammenstellen kann. Daß er über¬
mensch, durch einen halben Untermenschen ergänzt. Was kann bei
haupt schon so „erfahren“ ist, seiner Mutter einen solchen Ehe¬
solchem Moralkentauren Säuberliches herauskommen? Ueberdies ist
irrtum zuzutrauen. Als eigentliche Gefahr des Stückes erwies sich
er ja längst zum Tode verurteilt, als Herzleidender, allerdings nicht
aber die Beichte im dritten Akt. Der Vater erzählt dem Sohne den
wegen seines Vergehens wider Johanna. Es ist ein größeres Ver¬
Fall seiner Mutter, mit allen grausamen Menschlichkeiten solcher
brechen, eine insuffiziente Bi= oder Trikuspidalklappe zu haben.
Naturerscheinungen. Und Herr Reicher spielt den Vater. Mit einer
Johannas wegen könnte er hundert Jahre alt werden, die Klappe
nüchternen Verständigkeit, wie eine rein geschäftliche Sache, berichtet
kennt keinen Pardon. Er lächelt ironisch, daß dem sohnlosen Maler
er den ganzen Hergang. Eine interessante Börsenoperation müßte ihn
vor der Einsamkeit graut. Darauf mußte er doch gefaßt gewesen
mehr aufregen. Aber er hat ja überhaupt keinen Funken von dem Feuer
sein. „Den Weg hinab gehen wir alle allein... wir, die selbst
dieses großen Herzenbrechers Julian, der geradezu „faszinierend“ sein soll.
niemandem gehört haben. Das Altern ist nun einmal eine einsame
Wäre er ein Mitterwurzer, mit dem liebenswürdigen Teufel im
Beschäftigung für unser einen, und ein Narr, wer sich nicht beizeiten
Leibe, der glänzende und wärmende Mensch voll unwiderstehlicher
darauf einrichtet, auf keinen Menschen angewiesen zu sein.“ Er selbst
Lebensansteckung, so wäre die Szene vielleicht möglich. So stellt man
hat sie stets „in gemessener Entfernung“ gehalten; wenn sie es nicht
sie sich im Leben vor. Aber diesem dürren Berichterstatter müßte der
merken wollten, ist's nicht seine Schuld ... Und daß Sohn Felix
junge Leutnant, der über seine Mutter solche Sachen verbreiten hört,
von Vater Julian, nach aller weltmännisch reifen Beichte und welt¬
schon beim zehnten Satz an die Gurgel fahren und allen ferneren
männisch zugestandenen Absolution — menschlich ist ja menschlich —
Indiskretionen auf Kosten einer heißgeliebten Toten mit Gewalt ein
daß der Sohn doch von diesem leiblichen Vater zu dem nichtleiblichen,
Ende machen. Uebrigens macht sich da auch noch ein leidiges, sehr
zu dem armen braven Manne mit den Hörnern zurückkehrt, das freut
prononziertes Element geltend, das allenfalls in der Leopoldstadt
den Herrn v. Sala. Ihm ist das ein Zeichen, daß die Welt sich
weniger stören könnte. Herr Reicher und Frau Triesch, zwei
doch bessert. „Es scheint mir überhaupt, daß jetzt wieder ein besseres
gewiß sehr tüchtige Künstler, scheinen beide unrettbar diesem
Geschlecht heranwächst ... mehr Haltung und weniger Geist.“
westöstlichen Teufel verfallen. Alle Schulzucht und Bühnenübung hat
Man könnte auch sagen: mehr Gefühl und weniger Gefühle.
nicht genügt, ihn auszutreiben. Frau Triesch spielte natürlich die
Die letzte Generation hat wahrhaftig ein inneres Panorama von
Johanna; hauptsächlich mit Intelligenz, dem Besten, was sie hat,
Gefühlen an sich vorüberziehen lassen und in aller Hast jede leifeste
man könnte sagen, mit mehr Verstand als Glück. Für einen so in
Kurvenschwankung der Empfindungslinie mitmarkiert (Stenopathie,
Grund und Boden Verwöhnten, wie Herr v. Sala, ist sie doch
Schnellfühlen), daß man von einer neuen Wertherzeit reden könnte.