box 23/3
18. Der einsane Neg
Die Schaubühn
668
—
und genossen. Sonst aber pries die allgemeine Zustimmung nur etwa
noch die rhythmische Vollkommenheit eines Abends, die feine Abstufung
und das kluge Maß des Sprechtons und der Pausen, die planvolle
Harmonie im Aufstieg und Abschwellen der Stimmung. Dieses be¬
deutende Verdienst eines seinen Dichtern treu und mit hohem Verständnis
hingegebenen Theaterleiters wurde keineswegs verkannt oder verschmäht.
Neben ihm aber traten jetzt, zum ersten Mal mit so prägnanter Kraft,
die Gestalten seiner gewichtigsten Schauspieler in selbständiger Größe und
Eindringlichkeit hervor. Sonst waren fast nur Rittner und die Lehmann
aus der gleichgerichteten Allgemeinheit des Ensembles in dauernder Er¬
innerung geblieben. Sie waren ja zumeist, so lange Hauptmann und
sein Naturalismus noch alles galt, die Protagonisten gewesen; ihre Ein¬
fachheit war von einer elementaren Gewalt, die wie eine sinnbildliche
Zusammenfassung des ganzen Prinzips erschien. Jetzt handelt es sich
aber um mehr, als um Einfachheit und natürliche Gewalt. Die suggestive
Macht der Person, Reichtum und Glanz des Einfalls entscheiden in den
neuen Rollen der neuen Stücke. Nun, Persönlichkeiten von der wunder¬
baren innern Fülle wie Rittner und die Lehmann werden auch auf
solchem Boden nicht schwächer oder kleiner. Im Gegenteil: alles staunte
das ungeheure Wachstum Rittners an — desselben Rittner, dessen
Eigenheit man hier immer von der dienenden Sorgfalt naturalistischer
Nachzeichnung verschlungen sah. Ihm, dessen mißlungener Ferdinand
nach mehr als einem Jahrzehnt noch in abschreckender Erinnerung war,
traut man nun, nach seinem furchtbar prächtigen und ganz stilreinen
Starschenski, auch die großen klassischen Aufgaben zu, die seiner satten,
vollblütigen Männlichkeit gemäß wären: etwa den Götz, den alten Miller,
den Brutus, vielleicht den Othello oder den Odoardo. Damit will nur
gesagt sein, daß dieser bedeutende Künstlerinstinkt den höhern Stil in
dem Moment fand, da es die Entwicklung der Kunst von ihm verlangte.
Er ist mit seiner Zeit und für sie reif geworden.
Man sah ihn diesmal leider nur in zwei Rollen. Andre beherrschten
das Repertoire, lösten ihre überragende Erscheinung aus dem Gesamtbild,
prägten ihre Persönlichkeit mit unwiderstehlicher Macht unserm Geschmack und
Gedächtnis ein. Zwei Männer vor allem hat die rasch eroberte Liebe des
Publikums auf eine weithin sichtbare Höhe der allgemeinen Bewunderung
gehoben: Albert Bassermann und Oscar Sauer. Beide waren auch in
frühern Jahren schon da; aber jetzt erst, in den Gestalten, die ihre eigene
Phantasie 2nd Innerlichkeit miterschaffen durften, fing ihre Größe allen
zu leuchten an. Die unversiegliche Schöpferkraft Bassermanns, seine
Mannigfaltigkeit und Bildsamkeit, sein grandioser Reichtum an Ausdruck
und Einfall führten, in einem halben Dutzend Rollen, die Hörerschaft
zu immer steigender Begeisterung. Seine gewaltsam erobernde Vehemenz
warf alle Bedenken um, die eiwa gegen Härten und Sprunghaftigkeiten
18. Der einsane Neg
Die Schaubühn
668
—
und genossen. Sonst aber pries die allgemeine Zustimmung nur etwa
noch die rhythmische Vollkommenheit eines Abends, die feine Abstufung
und das kluge Maß des Sprechtons und der Pausen, die planvolle
Harmonie im Aufstieg und Abschwellen der Stimmung. Dieses be¬
deutende Verdienst eines seinen Dichtern treu und mit hohem Verständnis
hingegebenen Theaterleiters wurde keineswegs verkannt oder verschmäht.
Neben ihm aber traten jetzt, zum ersten Mal mit so prägnanter Kraft,
die Gestalten seiner gewichtigsten Schauspieler in selbständiger Größe und
Eindringlichkeit hervor. Sonst waren fast nur Rittner und die Lehmann
aus der gleichgerichteten Allgemeinheit des Ensembles in dauernder Er¬
innerung geblieben. Sie waren ja zumeist, so lange Hauptmann und
sein Naturalismus noch alles galt, die Protagonisten gewesen; ihre Ein¬
fachheit war von einer elementaren Gewalt, die wie eine sinnbildliche
Zusammenfassung des ganzen Prinzips erschien. Jetzt handelt es sich
aber um mehr, als um Einfachheit und natürliche Gewalt. Die suggestive
Macht der Person, Reichtum und Glanz des Einfalls entscheiden in den
neuen Rollen der neuen Stücke. Nun, Persönlichkeiten von der wunder¬
baren innern Fülle wie Rittner und die Lehmann werden auch auf
solchem Boden nicht schwächer oder kleiner. Im Gegenteil: alles staunte
das ungeheure Wachstum Rittners an — desselben Rittner, dessen
Eigenheit man hier immer von der dienenden Sorgfalt naturalistischer
Nachzeichnung verschlungen sah. Ihm, dessen mißlungener Ferdinand
nach mehr als einem Jahrzehnt noch in abschreckender Erinnerung war,
traut man nun, nach seinem furchtbar prächtigen und ganz stilreinen
Starschenski, auch die großen klassischen Aufgaben zu, die seiner satten,
vollblütigen Männlichkeit gemäß wären: etwa den Götz, den alten Miller,
den Brutus, vielleicht den Othello oder den Odoardo. Damit will nur
gesagt sein, daß dieser bedeutende Künstlerinstinkt den höhern Stil in
dem Moment fand, da es die Entwicklung der Kunst von ihm verlangte.
Er ist mit seiner Zeit und für sie reif geworden.
Man sah ihn diesmal leider nur in zwei Rollen. Andre beherrschten
das Repertoire, lösten ihre überragende Erscheinung aus dem Gesamtbild,
prägten ihre Persönlichkeit mit unwiderstehlicher Macht unserm Geschmack und
Gedächtnis ein. Zwei Männer vor allem hat die rasch eroberte Liebe des
Publikums auf eine weithin sichtbare Höhe der allgemeinen Bewunderung
gehoben: Albert Bassermann und Oscar Sauer. Beide waren auch in
frühern Jahren schon da; aber jetzt erst, in den Gestalten, die ihre eigene
Phantasie 2nd Innerlichkeit miterschaffen durften, fing ihre Größe allen
zu leuchten an. Die unversiegliche Schöpferkraft Bassermanns, seine
Mannigfaltigkeit und Bildsamkeit, sein grandioser Reichtum an Ausdruck
und Einfall führten, in einem halben Dutzend Rollen, die Hörerschaft
zu immer steigender Begeisterung. Seine gewaltsam erobernde Vehemenz
warf alle Bedenken um, die eiwa gegen Härten und Sprunghaftigkeiten