II, Theaterstücke 18, Der einsame Weg. Schauspiel in fünf Akten (Junggeselle, Junggesellenstück, Die Egoisten, Einsame Wege, Wege ins Dunkle, Weg zum Licht), Seite 389

18. Der einsane Neg box 23/4
gubelter-Zeitung, Wien
Husschnitt aus:
20. 2.1974
vom:
Kunst.
Theater und
Burgtheater.
Donnerstag den 19. Februar. Zum erstenmal: „Der
einsame Weg.“ Schauspiel in fünf Atten von Arthur
Schnitzler.
Als Verhart Hauptmann seine „Einsamen Menschen“
schrieb, da stellte er die überlieferten Anschauungen einer alten,
allgemach versinkenden Zeit dem Neuen gegenüber. Es war
damals eine Zeit der literarischen Gärung, in der der ent¬
schiedene Versuch gemacht wurde, nicht allein nach neuen Aus¬
drucksformen der Dichtung, sondern auch um die geistigen
Zeitinhalte zu ringen. Die Menschen der neuen Zeit fühlten
sich innerhalb des Kreises der alten Zeit als hoffnungslos
vereinsamt und zogen sich magnetisch an. Als ein literarisches
Zeugnis dieser Zeitstimmung wird Gerhart Hauptmanns Werk
noch weit über seinen unzweifelhaften künstlerischen Wert dauernde
Bedeutung behalten. Arthur Schnitzlers Art hat ihn selten zur
dichterischen Behandlung von Zeitproblemen geführt er ist meist
im Kreise psychologischer und individueller Gebiete geblieben.
Aber hierin hat er es zur Meisterschaft gebracht. Dabei darf
man ihm die wienerische Note nicht zum Vorwurf machen. Sie
war die ihm gemäßeste. Gerhart Hauptmann und Arthur
Schnitzler sind doch die einzigen zwei großen Namen in der
dramatischen Literatur Deutschlands in den letzten zwei Jahr¬
zehnten, denen sich Schönherr erst in der letzten Zeit an¬
geschlossen hat.
Das Schauspiel „Der einsame Weg“ bedeutet zweifellos
einen Gipfelpunkt seiner Kunst. Es handelt sich hier weder um
das von Gerhart Hauptmann behandelte Problem noch um eine
wienerische Dichtung. Von geschichtlicher Zufälligkeit und lokaler
Echtheit erhebt sich die Idee des Stückes zur menschheitlichen All¬
gemeingiltigkeit. Die Personen sind wienerisch bis in die Knochen, wie
denn jede echte Dichtergestalt den Erdgeruch an sich haben muß;
aber was sie erleben, was sie handeln und leiden, ist allgemeines
Menschenlos. Und es ist jenes tieftragisch. Los, das die Mensch¬
heit zu schleppen bestimmt ist bis ans End aller Tage, jenes
Los, das die alte Weisheit Indiens im Bilde vom Schleier
Majas schon gekennzeichnet hat. Nicht umsonst kehrt an einigen
bedeutungsvollen Stellen des Dramas das Wort „Schleier“
wieder. Daß es uns Menschen für ewig verwehrt ist, die Seele des
Menschen neben uns nackt vor uns sehen zu können, das ver¬
dammt jeden von uns dazu, einen einsamen Weg zu gehen.
Im Lärme des Lebens, im Gewirre des Tages denken wir
nicht an diese Grauenhastigkeit und viele denken nie daran.
Aber wer gewohnt ist, über den Tag und über sein kleines Ich
hinauszuschauen, wird immer wieder und umsomehr, je länger
die Schatten des Lebenstages fallen, an diese entsetzliche
Einsamkeit gemahnt, die sich vor ihm erhebt und ihn mit
Qual erfüllt.
Eine Familie lebt vor unseren Augen und ihre seltsamen
Einzelglieder, tiefer empfindende Menschen, ieben — jeder in
seiner Einsamkeit. Je bedeutender sie in ihrem Gefühlsleben sind,
umsomehr leiden sie. Nicht was sie äußerlich trennen zu müssen
scheint, ist die Hauptsache. Nicht das Geheimnis, daß der Sohn
Felix nicht das Kind Wegraths ist, sondern wenige Tage
vor der Hochzeit von einem anderen gezeugt wurde, ist
das Entscheidende. Die Mutter wird viel mehr gequält durch
en Sren .
der. Gedanken an Fichtner, den wirklichen Vater, der ihr so
fremd geworden. Wegrath nebt seinen Sohn und seine Tochter,
aber da alles zusammenbricht und Felix nach Johannas Selbst¬
mord ihm mit tiefstem Gefühl, obwohl er weiß, daß er nicht
sein Vater ist, mit überströmender Zärtlichkeit „Vater“ zuruft,
da antwortet dieser: „Müssen solche Dinge geschehen, daß mir
dieses Wort klingt, als hört' ich's zum erstenmal?“ Und in
dieser Frage liegt der Gedanke, daß Vater und Sohn einsame
Wege gegangen sind. Als man im Hause Wegrath nicht weiß,
wo Johanna ist, da jammert der Vater: „Warum hat sie nichts
zu mir gesprochen? Warum hab' ich nichts von ihr gewußt?
Warum bin ich ihr so fern gewesen?" Und Johanna ist ein
besonders seltsames Wesen, das seinen einsamen Weg bis in den
Tod mit Stärke und Bewußtsein geht, unverstanden und un¬
verstehbar für alle um sie. Nur ihre Mutter hat eine gewisse
Hellsichtigkeit auch für sie. Die Sterbenskranke sagt zu ihrem
Arzte: „Für mich wäre es eine rechte Beruhigung, wenn ich
Sie hier zurücklassen dürfte unter diesen Menschen, die mir alle
so nahe sind und die doch alle voneinander nichts wissen,
kaum ihre Beziehungen zueinander kennen und dazu b immt
scheinen, auseinander zu flattern, weiß Gott, wohin.“h ihr
Bruder Felix fragt sie, von ihrer verschwiegenen Art # roffen:
„Wozu nur magst du geschaffen sein?“ Und sie seler, die
glaubt schon einmal gelebt zu haben und wahrscheinh hofft,
wieder einmal zu leben, sagt die in dem Mun# eines
jungen Mädchens so absonderlichen Worte: „Ich den!, Felix,
daß es die Bestimmung mancher Menschen sein mag, einander
gar nichts anderes zu bedeuten als Erinnerung.“ Auch der
Vater Wegrath, ein sehr einfacher, aber doch tieffühlender Mann¬
kennt schmerzlich die Empfindung der Einsamkeit: „Arbeit ist
doch das einzige, was einem über dieses Gefühl des Alleinseit.s
hinweghilft ... dieses Alleingelassenseins . .. Was die anderen
Menschen anlangt, auch unsere Freunde sind doch nur Gäste in
unserem Leben, erheben sich vom Tisch, wenn abgespeist ist,
gehen die Treppe hinab und haben — wie wir — ihre eigene
Straße und ihr eigenes Geschäft.“
Ueber den Schleier der Maja, der Individuum von Indi¬
viduum trennt und der so schmerzlich empfunden werden kann,
spricht aber der Doktor Reumann das entscheidende Wort. Felix
sagt mit Beziehung auf die verschwundene Johanna: „Wer hat
sie denn gekannt von uns allen? Wer kümmert sich denn über¬
haupt um die anderen?“ Und Reumann antwortet: „Es ist
wahrscheinlich gut so, sonst würden wir alle toll vor Mitleid
oder Ekel oder Angst.“ Und so ist dieser Schleier, der uns oft
so unglücklich macht, doch eine herbe Notwendigkeit wie der
Tod, den alle fürchten.
Wir alle leben aneinander vorbei — wir alle können nur
— jeder für sich — unser eigenes Leben führen. So geht denn
durch das ganze Stück, das in seiner feinen Stimmung und leisen
Abgetöntheit eines der besten Werke Schnitzlers ist, eine tiefe
und dunkle Traurigkeit, die wunderbar ans Herz greift. Wieder
freuen wir uns der Menschenkenntnis eines Denkers, der uns
seine Weisheit, da er ein Dichter ist, in künstlerischen Gestaltungen
vor Augen führt.
Die Darstellung dieses Stückes ist nicht leicht. Es gehören
auserlesene Schauspieler dazu. Es wurde schon einmal in Wien
von den Berlinern gespielt und nach dem einstimmigen Urteil
der Kritik vortrefflich. Die Vorstellung im Burgtheater litt unter
dem Fräulein Wohlgemuth. Sie gab die Johanna. Völlig
ungenügend — aber sie ist schön. Ja, sie ist schön. Aber sie hat
die Schönheit einer Statue. Sie hat kein Leben, sie ist starr. Es
gibt ja gewisse Rollen — nicht allzu viele —, die gerade sie
vortrefflich geben wird (man denke an „Medardus“), aber es
fehlen ihr Empfindung, Schwung und Anmut. Und nun gar
die Johanna des Stückes. Diese im Innersten umflorte Seele,
diese komplizierte Erscheinung, dieses aus tiefster Empfindung
und seltsamster Herrheit gemischte Wesen erfordert mehr schaus
spielerische Begabung, als Fräulein Wohlgemuth zu eigen ist
murn
je war die einzige im ganzen Stücke, die wir gern durch eine
dere ersetzt gesehen hätten. Alle anderen waren an ihrem
atze: Frau Bleibtreu als Irene Herms, die verlassene Ge¬
bte, die gewesene Schauspielerin, eine Art weiblicher Natur¬
rsch, resch, fesch und dabei doch das Gemüt tief ergreifend,
au Haeberle als Mutter, schlicht und eindrucks¬
Il, Herr Paulsen als Wegrath, der einfache und redliche
ann, Herr Gerasch sogar als Felix überraschend natürlich
d, da er nicht zu schreien hatte, sehr verständlich, Herr
evrient als Fichtner, der vielleicht nur in seinem Wesen
schter zu halten wäre, Herr Walden als v. Sala, der echte,
icht skeptisch=frivole Weltmann, Herr Herterich als Arzt,
stimmt und zurückhaltend. Die von Herrn Devrient
führte Regie verdient alles Lob. Das Publikum nahm das
tück mit viel Beifall auf und nach dem dritten, vierten und
E. P.
Akterschien der Antor, um zu danken.