Sester und ergreifendster Dichtung, die uns
gestern, elf Jahre nach ihrer Entstehung, zum erstenmal die
wehen Rhythmen ihrer verklingenden Sehnsuchtsmelodien zu
offenbaren suchte. In keinem anderen Werk ist der Wiener
in Technik, logischer Dialogverklammerung und Tiefgrün¬
digkeit der ethischen Probleme dem großen Skandinavier
so nahe gekommen. Ohne die „Wildente“, die „Frau vom
Meer“ und den Epilog „Wenn wir Toten erwachen" sind
viele Szeuen der fünf Akte kaum zu denken, womit jedoch
nicht gesagt sein soll, daß Schnitzlers Schauspiel dadurch
irgend etwas an geistiger Selbständigkeit eingebüßt habe.
Im Gegenteil: Es ist ja das persönlichste Wert des Tichters.
Schnitzter war vierzig Jahre alt, als er den „Einsamnen
Weg“ schrieb. Er stand an der wichtigsten Wegwende des
Mannes. Prüfend überblickt man die Zeit des Aufstiegs;
was bisher im Schein des Lebenswichtigen geglänzt hat,
überschätzte Eintagsherrlichkeiten verwehen gespenstisch vor
den gereiften Blicken des Vierzigjährigen, er bekommt den
Sinn für das Wesentliche, diesen erprobten Führer im Reich
des herondämmernden Alters. Der Tod erhebt langsam und
mahnend die Sanduhr und der Männlichst; wird im Augen¬
blicke jäher Beklemmung bebend nach einer ermutigenden
und stützenden Hand tasten. Weh dem, dessen Schaffens¬
und Liebesegoismus verstehende Mitgeschöpfe endgültig aus
seinem Bereich verbannt hat. „Und wenn uns ein Zug von
Bacchanten begleitet — den Weg hinab gehen wir alle
allein ... wir, die selbst memandem gehört haben.“ Schnitz¬
ler hat während der ersten zehn Jahre seines Wirkens eine
Reihe solcher Genüßtinge und leichtsiuniger Individualisten
oft mit verstehendem Entgegenkommen gezeichnet und nur
sehr selten den Stab über sie gebrochen. Jetzt ruft er sie
und sich vors Gericht und zieht die letzten Konsequenzen.
(Goethe tat Ahnliches im „Götz" und „Clavigo“.) Und so
verschlingen sich im „Einsamen Weg“ die Grundakkorde
seiner gesamten Dichtung: Leben, Liebe, Selbstsucht, Schick¬
sal und Tod zu einem herzerschütternden Parzenlied. —
Julian Fichtner, ein seinerzeit berühmter Maler, hat in der
Jugend die Braut seines Freundes Wegrat verführt und
war auch entschlossen, sie am nächsten Tage mit sich in die
Welt zu nehmen, doch im letzten= Augenblick überwältigt ihn
die Furcht, sein Leben ewig un ein Wesen gekettet zu sehen,
das seinem bisherigen pflichtenlosen Hinstürmen durch die
Genußmöglichkeiten der Welt unbedingt Fesseln anlegen
wird und so klieht er allein, ohne Reue, im berauschenden
Gefuhl von Jugend und Unbeschränktheit. Er hätte sich so¬
par des eventuellen Selbstmordes der Geliebten für wert
gehalter. Als er Gabriele nach zehn Jahren wieder ent¬
gegentritt, erfährt er, daß sie damals ihren Verlobten so¬#
fort geheiratet habe und daß ihr erstes Kind Felix sein
Sohn sei. Seit dieser Zeit zieht es ihn mit magnetischer
Gewalt in das Hous der Wegrats und nach Gabrielens
Todebeschließt er, Felix das Geheimnis seiner Geburt zu
ainen. Denn Felix ist für den alternden, einsamen
Münstler, der nach allen Seilen ins Leere greist, die letzte
Hoffnung. Die oft verherrlichte Stimme der Natur verjagt
jedoch. Felix weist ihn von sich, sein Platz sei an der Seite
Wegrats, der die Mutter geliebt und der seine Kindheit
und Jugend mit Zärtlichkeit umgeben hobe. Denn man hat
für einen Menschen sehr wenig getan, wenn man nichts
tat, als ihn in die Welt zu setzen. Und da Julian Fichtner
auch die zweite Gelegenheit, die ihm das Schicksal bot, zu
einem Gesährten des Alters zu kommen, versäumt hat, so
schleicht er einsam und gebrochen hinaus. Diese zweite Ge¬
legenheit war seine Beziehung zu der Schauspielerin Irene
Herms. Beider Liebesverhälinis hätte durch die Geburt
eines Kindes gekrönt werden können, vielleichi wäre daraus
ein Liebesbund erwachsen und sie hätte auch einer momen.
tanen Untreue gegen Julian, die zur Trennung beider ge¬
führt hat, sicher widerstanden. Als die Gealterten jetzt nach
Jahren in ihren Erinnerungen zurückblättern und Julian
darauf hinweist, daß Irene doch durch ihre Künstlerlauf¬
bahn für seinen Verlust reichlich entschädigt worden sei, da
bricht sie los: „Ich-pfeif drauf. Was hab' ich davon? Was
will das alles bedeuten? Eine Frau, die kein Kind hat,
ist gar nie eine Frau gewesen. Aber eine, die einmal eins
hätte haben können — haben müssen und die — nicht Mut¬
ter geworden ist, das ist eine ... ah!" ... Neben Fichtner,
Irene und Felix schreitet noch ein sellsames Paar durch das
Drama: der Dichter Stephan v. Sala und Welgrats Tochter
Johanna. Auch Sala ist ein strupelloser Egoist. Er hat
nur noch wenige Wochen zu leben, weiß es jedoch nicht.
heuchelt, verführt, hohnlacht, über Leichen schreitet. Aber er
ist durch Mängel des Temperaments dazu verurteilt, ein
anständiger Mensch zu sein. — „Der einsame Weg“ ist wohl
Schnitzlers tiefste Dichtung, doch nicht sein bestes Drama.
Zwei, ja drei Handlungen laufen parallel, sie lösen einander
ab, statt miteinander zu verschmelzen. Breite epische Stellen
erdrücken den dritten Akt und man muß den Weg durch
das Buch gemacht haben, um den seinen, überzarten Fäden
der seelischen Verschlingungen folgen zu kölmen. Kommt
überdies wie gestern eine Aufführung zustande, die mit
Ausnahme Harry Waldens und Frau Brandts dem
Geiste des Dichters nicht einmal Annayerungswerte zu vie¬
ten vermag, so darf man sich nicht wundern, daß der Ein¬
druck des „Einsamen Weges“ nicht sonderlich günstig war.
Wer als junger Mensch etwas Faszinierendes, Blendendes,
Geniales hat, kann mit zum fünfzi. Jahren nicht zu einem
gänzlich unbedeutenden, jedes Interesse ausschließenden
Spießbürger herabsinken. Und den hat Herr Ruvel aus
dem Künstler Julian Fichtner gemacht. Frau Graf (Jo¬
hanna) spielte ein verraunztes Bürgermädchen, das einge¬
lernte Worte aufsagt, und mit dem geistig reifen Felix
wußte Herr Rehberger gar nichts anzufangen. Die bei¬
den Auftritte zwischen Julian und Felit, die schönsten des
Dramas, verloren vollständig ihre dichterische Physiognemie.
Herr Recke (Wegrat) und Frl. Birnbaum (Gabriel:)
blieben bereits in den ersten Parkettreihen unverständlich,
wie überhaupt das unhörbare Geflüster seit einiger Zeit
zum allgemein beklagten Übel worden ist. Herr Strauß
(Dr. Neumann) wählte nicht mit Unrecht die Maske Schnitz¬
lers und verstand wenigstens, was er zu sagen hatte. Blei¬
den Herr Walden und Frau Brandt. Walden gibt dem
manirierten Schöngeist Sala eine unwiderstehliche, raffi¬
nierte Kultur der Gebärde, der Kleidung und des Wortes.
Doch bleibt der Künstler nicht an diesen Außerlichkeiten haf¬
ten, sondern erschließt auch restlos das komplizierte Seelen¬
bild des bis zum Grabesrand östheteinden Selbstsüchtlings,
ja am Schlusse, als der Wunsch, das verschüttete Ekbatana
zu betreten, durch die jählings niederjausende Todessense
zunichte gemacht wird, da ergriff und durchzitterte wohl
jeden Zuhörer die Stimmungsgewalt seiner auserlesenen
Kunst. In der großen Szene mit Julian feierte Frau
[Brandts ungezwungene und in der Gefühlsreihe von
Scherz zum Schmerz völlig ausgeglichene Dialogbeherrschung
seinen berechtigten Triumph. Das ausverkaufte Haus dankte
Herrn Walden durch Beifallsstürme, namentlich nach den
wierten Akt.
gestern, elf Jahre nach ihrer Entstehung, zum erstenmal die
wehen Rhythmen ihrer verklingenden Sehnsuchtsmelodien zu
offenbaren suchte. In keinem anderen Werk ist der Wiener
in Technik, logischer Dialogverklammerung und Tiefgrün¬
digkeit der ethischen Probleme dem großen Skandinavier
so nahe gekommen. Ohne die „Wildente“, die „Frau vom
Meer“ und den Epilog „Wenn wir Toten erwachen" sind
viele Szeuen der fünf Akte kaum zu denken, womit jedoch
nicht gesagt sein soll, daß Schnitzlers Schauspiel dadurch
irgend etwas an geistiger Selbständigkeit eingebüßt habe.
Im Gegenteil: Es ist ja das persönlichste Wert des Tichters.
Schnitzter war vierzig Jahre alt, als er den „Einsamnen
Weg“ schrieb. Er stand an der wichtigsten Wegwende des
Mannes. Prüfend überblickt man die Zeit des Aufstiegs;
was bisher im Schein des Lebenswichtigen geglänzt hat,
überschätzte Eintagsherrlichkeiten verwehen gespenstisch vor
den gereiften Blicken des Vierzigjährigen, er bekommt den
Sinn für das Wesentliche, diesen erprobten Führer im Reich
des herondämmernden Alters. Der Tod erhebt langsam und
mahnend die Sanduhr und der Männlichst; wird im Augen¬
blicke jäher Beklemmung bebend nach einer ermutigenden
und stützenden Hand tasten. Weh dem, dessen Schaffens¬
und Liebesegoismus verstehende Mitgeschöpfe endgültig aus
seinem Bereich verbannt hat. „Und wenn uns ein Zug von
Bacchanten begleitet — den Weg hinab gehen wir alle
allein ... wir, die selbst memandem gehört haben.“ Schnitz¬
ler hat während der ersten zehn Jahre seines Wirkens eine
Reihe solcher Genüßtinge und leichtsiuniger Individualisten
oft mit verstehendem Entgegenkommen gezeichnet und nur
sehr selten den Stab über sie gebrochen. Jetzt ruft er sie
und sich vors Gericht und zieht die letzten Konsequenzen.
(Goethe tat Ahnliches im „Götz" und „Clavigo“.) Und so
verschlingen sich im „Einsamen Weg“ die Grundakkorde
seiner gesamten Dichtung: Leben, Liebe, Selbstsucht, Schick¬
sal und Tod zu einem herzerschütternden Parzenlied. —
Julian Fichtner, ein seinerzeit berühmter Maler, hat in der
Jugend die Braut seines Freundes Wegrat verführt und
war auch entschlossen, sie am nächsten Tage mit sich in die
Welt zu nehmen, doch im letzten= Augenblick überwältigt ihn
die Furcht, sein Leben ewig un ein Wesen gekettet zu sehen,
das seinem bisherigen pflichtenlosen Hinstürmen durch die
Genußmöglichkeiten der Welt unbedingt Fesseln anlegen
wird und so klieht er allein, ohne Reue, im berauschenden
Gefuhl von Jugend und Unbeschränktheit. Er hätte sich so¬
par des eventuellen Selbstmordes der Geliebten für wert
gehalter. Als er Gabriele nach zehn Jahren wieder ent¬
gegentritt, erfährt er, daß sie damals ihren Verlobten so¬#
fort geheiratet habe und daß ihr erstes Kind Felix sein
Sohn sei. Seit dieser Zeit zieht es ihn mit magnetischer
Gewalt in das Hous der Wegrats und nach Gabrielens
Todebeschließt er, Felix das Geheimnis seiner Geburt zu
ainen. Denn Felix ist für den alternden, einsamen
Münstler, der nach allen Seilen ins Leere greist, die letzte
Hoffnung. Die oft verherrlichte Stimme der Natur verjagt
jedoch. Felix weist ihn von sich, sein Platz sei an der Seite
Wegrats, der die Mutter geliebt und der seine Kindheit
und Jugend mit Zärtlichkeit umgeben hobe. Denn man hat
für einen Menschen sehr wenig getan, wenn man nichts
tat, als ihn in die Welt zu setzen. Und da Julian Fichtner
auch die zweite Gelegenheit, die ihm das Schicksal bot, zu
einem Gesährten des Alters zu kommen, versäumt hat, so
schleicht er einsam und gebrochen hinaus. Diese zweite Ge¬
legenheit war seine Beziehung zu der Schauspielerin Irene
Herms. Beider Liebesverhälinis hätte durch die Geburt
eines Kindes gekrönt werden können, vielleichi wäre daraus
ein Liebesbund erwachsen und sie hätte auch einer momen.
tanen Untreue gegen Julian, die zur Trennung beider ge¬
führt hat, sicher widerstanden. Als die Gealterten jetzt nach
Jahren in ihren Erinnerungen zurückblättern und Julian
darauf hinweist, daß Irene doch durch ihre Künstlerlauf¬
bahn für seinen Verlust reichlich entschädigt worden sei, da
bricht sie los: „Ich-pfeif drauf. Was hab' ich davon? Was
will das alles bedeuten? Eine Frau, die kein Kind hat,
ist gar nie eine Frau gewesen. Aber eine, die einmal eins
hätte haben können — haben müssen und die — nicht Mut¬
ter geworden ist, das ist eine ... ah!" ... Neben Fichtner,
Irene und Felix schreitet noch ein sellsames Paar durch das
Drama: der Dichter Stephan v. Sala und Welgrats Tochter
Johanna. Auch Sala ist ein strupelloser Egoist. Er hat
nur noch wenige Wochen zu leben, weiß es jedoch nicht.
heuchelt, verführt, hohnlacht, über Leichen schreitet. Aber er
ist durch Mängel des Temperaments dazu verurteilt, ein
anständiger Mensch zu sein. — „Der einsame Weg“ ist wohl
Schnitzlers tiefste Dichtung, doch nicht sein bestes Drama.
Zwei, ja drei Handlungen laufen parallel, sie lösen einander
ab, statt miteinander zu verschmelzen. Breite epische Stellen
erdrücken den dritten Akt und man muß den Weg durch
das Buch gemacht haben, um den seinen, überzarten Fäden
der seelischen Verschlingungen folgen zu kölmen. Kommt
überdies wie gestern eine Aufführung zustande, die mit
Ausnahme Harry Waldens und Frau Brandts dem
Geiste des Dichters nicht einmal Annayerungswerte zu vie¬
ten vermag, so darf man sich nicht wundern, daß der Ein¬
druck des „Einsamen Weges“ nicht sonderlich günstig war.
Wer als junger Mensch etwas Faszinierendes, Blendendes,
Geniales hat, kann mit zum fünfzi. Jahren nicht zu einem
gänzlich unbedeutenden, jedes Interesse ausschließenden
Spießbürger herabsinken. Und den hat Herr Ruvel aus
dem Künstler Julian Fichtner gemacht. Frau Graf (Jo¬
hanna) spielte ein verraunztes Bürgermädchen, das einge¬
lernte Worte aufsagt, und mit dem geistig reifen Felix
wußte Herr Rehberger gar nichts anzufangen. Die bei¬
den Auftritte zwischen Julian und Felit, die schönsten des
Dramas, verloren vollständig ihre dichterische Physiognemie.
Herr Recke (Wegrat) und Frl. Birnbaum (Gabriel:)
blieben bereits in den ersten Parkettreihen unverständlich,
wie überhaupt das unhörbare Geflüster seit einiger Zeit
zum allgemein beklagten Übel worden ist. Herr Strauß
(Dr. Neumann) wählte nicht mit Unrecht die Maske Schnitz¬
lers und verstand wenigstens, was er zu sagen hatte. Blei¬
den Herr Walden und Frau Brandt. Walden gibt dem
manirierten Schöngeist Sala eine unwiderstehliche, raffi¬
nierte Kultur der Gebärde, der Kleidung und des Wortes.
Doch bleibt der Künstler nicht an diesen Außerlichkeiten haf¬
ten, sondern erschließt auch restlos das komplizierte Seelen¬
bild des bis zum Grabesrand östheteinden Selbstsüchtlings,
ja am Schlusse, als der Wunsch, das verschüttete Ekbatana
zu betreten, durch die jählings niederjausende Todessense
zunichte gemacht wird, da ergriff und durchzitterte wohl
jeden Zuhörer die Stimmungsgewalt seiner auserlesenen
Kunst. In der großen Szene mit Julian feierte Frau
[Brandts ungezwungene und in der Gefühlsreihe von
Scherz zum Schmerz völlig ausgeglichene Dialogbeherrschung
seinen berechtigten Triumph. Das ausverkaufte Haus dankte
Herrn Walden durch Beifallsstürme, namentlich nach den
wierten Akt.