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18. Der einsane Neg
—
L am Der Neue Weg, Berlin
31 MAl 1913
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(Nebenrollen
Don Julius Bab
XIX.
Dr. Franz Reumann.
ist wohl nicht
Lon den Werken Arthur Schnitzlers
das stärkste und sdirksamste, aber das reinste und schönste
das Schauspiel „Der einsame Weg“. Am vollkommensten
und klarsten spiegelt es die Grundstimmungen einer besonderen
Dichternatur und wird deshalb sicher noch oft auf unseren Bühnen
wiederkehren. — Schnitzler ist von Haus aus ein Romantiker;
das will eigentlich sagen: ein Mensch, dessen Natur sich nicht im
Erfassen und Beherrschen der Realität befriedigt, dessen Religion
Leben und Wert nicht zusammenbringt, der vielmehr seine Sehn¬
sucht schwärmerisch an Unwirkliches anknüpfend, mit ironisch
überlegenem Zweifel auf alles Endliche, Begrenzte, Wirkliche
sieht. Aber er ist ein Romantiker im Kleide des Weltmanns,
denn er ist zu skeptisch und zu blasiert, um noch zu „glauben“.
Die Leidenschaft für das Überwirklich=Jenseitige ist in seinem
ungläubigen Sinn einer tiefgespannten Neugier gewichen. Als
vom Sterben die Rede ist, sagt sein Held: „Gibt es einen an¬
ständigen Menschen, der in irgendeiner guten Stunde in tiefster
Seele an etwas anderes denkt?“ Aber aus eben dieser fragen¬
den Melancholie heraus kommt der spielerische Leichtsinn, mit
dem dieser romantische Herr nun die Dinge der Wirklichkeit auf¬
greift, genießt, wieder fallen läßt — sie sind alle schön, aber alle
doch nicht wichtig, alle doch nur Andeutungen für das, was
man eigentlich sucht. „Ein leichtsinniger Melancholiker“ so hat
sich schon Schnitzlers Anatol charakterisiert. „Der einsame Weg“
aber zeigt uns nun diesen Anatolmenschen beim Abstieg; zeigt ihn
in zwei sehr verschiedenen Exemplaren: der Dichter, Herr von
Sala, voll edler Geis.'gkeit und unerschütterlicher Haltung das
Ende erwartend, der Maler Julian Fichtner, dessen mehr sinn¬
liche Natur schwach und sentimental wird und plötzlich und ver¬
geblich nach der Welt draußen langt, die er so lange mi߬
achtet hat, und die sich ihm entzieht. Denn die Menschen und
Dinge, an die sie nie geglaubt, denen sie sich nie geopfert haben,
sie haben nun keinen Grund sich den Menschen, deren Jugend¬
glanz entflieht, zu opfern — der Weg dieser glaubenslosen Ro¬
mantiker, die kein Jenseits besitzen, und denen das Diesseits
nicht heilig war, muß ins Leere führen. „Und wenn uns ein
Zug von Bacchanten begleitet — den Weg hinab gehen wir alle
allein. Wir, die selbst niemandem angehört haben.“
Das Schicksal dieser beiden Männer wird verknüpft mit dem
Hause des Professors Wegrath. Felix, der Sohn dieses Hauses,
ist eigentlich Julian Fichtners Sohn, aber an diesem Vater so¬
wohl wie am Herrn von Sala, dessen Lebensspiel noch endend
des Felix Schwester Johanna in seine dunklen Kreise zieht, wird
er zum Rächer der Wirklichkeit — als Vertreter eines anderen
Geschlechts, eines unromantischen, „besseren“, das „mehr Hal¬
tung und weniger Geist“ besitzt. — Im Hause dieses Professors
daß ich es bin.“ Es ist kein Gegensatz dazu, sondern nur die
Spiegelung seiner innersten Problematik in der Stimmung eines
anderen Augenblicks, wenn er, der die durchgreifende geniale
Kraft so schmerzlich in sich vermißt, ein andermal leidenschaftlich
dafür eintritt, daß der zuverlässige Beamte die Welt und die
Kunst weiter bringe, als das sog. Genie, und fast wie ein fana¬
tischer Philister jedes Vorrecht des Genies abstreitet. — Denn
Dr. Reumann ist bei alledem durchaus kein Philister. Er möchte
es nur in Augenblicken sein, um sich über die Schwächen seiner
allzu feinföhligen Natur hinwegzutäuschen, er möchte jene „Hal¬
tung“ haben, die der glücklichere junge Felix schon besitzt. Daß
Wegrath, der selbst ein sehr bescheidener und schlichter Mann ist;
unter dessen liebensstarken Schutz sich aber alle Existenzen retten,
die das glänzende Spiel der romantischen Egoisten zerstört hat,
in diesem Hause verkehrt noch ein dritter Mann — der Dr.
Franz Reumann. Es ist nur eine Nebenfigur. Weder
für die äußere Handlung noch für die Idee des Stücks ist er
in dem Grade interessant wie der Herr von Sala oder der
Julian Fichtner. Aber, da wir es mit einer Dichtung und nicht
mit einem Theaterstück zu tun haben, so ist er doch sehr viel
mehr wie die bekannte und farblose Figur des Hausarztes, der in
so vielen neueren Stücken die uralte Funktion des „Vertrauten“
übernommen hat und sich als geduldige Wand hinstellt, gegen
die die anderen sich aussprechen dürfen. Franz Reumann ist
ein Mensch, dessen besondere Art in der gesamten Komposition
dieses Bildes etwas Wesentliches zu sagen hat.
Schon Reumanns Name ist, wie die meisten Namen dieses
Stückes, ein wenig symbolisch gemeint. Er ist ein Mann, den
vielerlei leicht reut, der Skrupel und Bedenken mit sich trägt,
und der so aus dem grad entgegengesetzten Grunde wie Fichtner
und ala auch einen melancholisch einsamen Weg haben wird.
Gleie das erste, was wir von ihm erfahren, charakterisiert ihn
völlig: Er hat Aussicht, in Graz Professor zu werden, aber er
tritt zurück, als sein einziger, chancenreicher Rivale sich bei einer
Bergtour den Hals bricht. „Der Gedanke, irgendeinen Vorkeil
dem Malheur eines anderen zu verdanken, wäre mir außer¬
ordentlich peinlich.“ Und dies, was er seine ganz gemeine
Eitelkeit nennt, und was in Wahrheit ein bis ins Metaphysischen
reichendes Feingefühl, ein untrügbarer Respekt vor den Rechten
fremden Lebens ist, es wiederholt sich im Laufe des Schau¬
spiels noch einmal bei einem Anlaß, der sehr viel innerlicher
und sehr viel tragischer ist: Er liebt Johanna, die Tochter Weg¬
raths — es wird uns in der unterirdisch zarten Art gezeigt, in
der alle Bewegungen innerhalb dieses Stückes vor sich gehen.
Aber er weiß, daß Johanna den Herrn von Sala liebt, und
nicht obschon, sondern gerade weil er als Arzt weiß, daß das
ein verlorener Mann ist, zieht er sich zurück. „Es hat sich wieder
einmal ein anderer den Hals gebrochen“ — Reumann, der einen
so tiefen Respekt vor fremden Leuten hat, ist ein Realist; aber
sein Realitätsgefühl ist so überaus sein, so überaus empfindlich,
daß es diesen stillen, ernst verschlossenen Menschen auf der ent¬
gegengesetzten Seite mit der gleichen Gefahr bedroht, die den
glänzenden Lebenskünstlern aus ihrer zu großen Respektlosigkeit
allem fremden Leben gegenüber erwächst: auch er vereinsamt.
Auch er ist nicht im Gleichgewicht mit der Welt, ihm fehlt es
an dem nötigen Minimum von Brutalität, was man zur Selbst¬
erhaltung und Selbstdurchsetzung braucht, und er bekennt des¬
halt: „Die Sehnsucht, die am tiefsten in mir steckt, ist die: ein
Schurke zu sein, ein Kerl, der heuchelt, verführt, hohnlacht, über
Leichen schreitet. Aber ich bin durch Mängel meines Tempera¬
ments dazu verurteilt, ein anständiger Mensch zu sein — und,
was vielleicht noch schmerzlicher ist, von allen Leuten zu hören,
schon die allererste Bemerkung, die über Reumann im Stück über¬
haupt fällt: Es ist ein Pfirsichspalier gepflanzt worden und
Felix erfährt, daß dies eine Idee von Dr. Reumann ist: „Das
hätte ich mir denken können — solche Nützlichkeitseinfälle traue
ich in unserer Familie auch niemandem so recht zu.“
Und wie das erste, so ist das letzte Wort, das ihn diese in
sich vollkommene Dichtung sprechen läßt, für Reumann von höch¬
ster Bedeutung. Er hat vom Hause Wegraths resigniert Ab¬
schied genommen — aber als das Unglück da ist, als man ihn
braucht, da ist er sofort wieder zur Stelle. Es ist am Anfang
des fünften Aktes. Johanna ist verschwunden und er hilft sie