II, Theaterstücke 17, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 0), Marionetten. Drei Einakter, Seite 25


Doch schließlich ging die Sache schief: Georg blieb
„Irenenfest“ und überließ das schöne Aennchen neid= und
gefühllos seinem schüchternen Freunde.
In dieser Lage tat Aennchen das vernünftigste, was
getan werden konnte: sie liebte den, den sie hatte, und
hörte den zu lieben auf, den sie nicht hatte!
So wurde denn Aennchen — allerdings auf dem Um¬
wege des „mit Recht so beliebten“. Verhältnisses
mit
der Zeit die legitime Gattin Eduards. Georg aber blieb
seinem Irenen=,Verhältnis“ treu; aber nicht zu seinem
Glück. Irene, die ihn zwar mit einem Söhnchen be¬
schenkte, ließ ihn später laufen, oder vielmehr: sie lief
ihm weg; das Söhnchen starb, und der geistvolle „Puppen¬
spieler“ der so gut die Vorsehung anderer zu spielen
wußte, wurde aus Gram und Herzeleid eine Art litera¬
rischer Vagabund.
Acht Jahre nach jenem Abschiedsfest trifft Eduard, der
von seinem Aennchen schon einen strammen Buben, der
zur Schule geht, hat, seinen Freund Georg in ziemlich
reduziertem Zustande in Wien und führt ihn in seine
Familie ein.
Aus den Gesprächen zwischen Georg, Eduard und
Anna erfahren wir allmählich die oben geschilderten
Vorgänge.
Mit besonderer Feinheit hat Schnitzler den Seelen¬
zustand des an seiner geistigen Regsamkeit, oder richtiger
gesagt: Exzentricität langsam zu Grunde gehenden
Schriftstellers geschildert.
Selbst von sogenannten fixen Ideen läßt Schnitzler
seinem Helden nicht frei sein.
So entwickelt Georg im Zwiegespräch mit Eduazd die
folgende Theorie über das Altsein der Menschen:
Georg (beinahe vor sich hin); Grau sein beweißt nichts.
Auch die Jahre beweisen nichts. Gibt es nicht Menschen,
die noch mit sechzig oder siebzig Jahren Väter werden —
oder Feldzüge mitmachen? Kann man solche Leute alt
nennen? Nein. Nur eines beweist, daß man alt ist —
der Tod. Alt sind nicht die Hundertjährigen; alt sind, die
morgen sterben müssen. (Zum Fenster hinausweisend)
diese junge Dame ist uralt, wenn sie an der nächsten
Ecke tot zusammenstürzt.
Eduard (zu ihm hin): O, ich dachte, Du erblickst meine
Frau, sie muß nämlich jeden Augenblick kommen ...
Nein, nein, sie ist es nicht.
Georg: Es hätte mir auch leid getan.
Eduard: Leid — warum denn?
Georg: Nun, ich habe Grund, mit solchen Bemerkungen
vorsichtig zu sein.
Eduard: Wie meinst du das?
Georg: Ich will Dir eine Geschichte erzählen, die mir
vor ein paar Jahren auf der Eisenbahn passiert ist. Es
war früh um sechs Uhr, ein Wintermorgen. Mir gegen¬
über sitzt ein Mensch, lehnt in der Ecke und schlummert.
Ich kenn' ihn nicht, ich hab' ihn nie gesehen, er inter¬
essiert mich nicht im allergeringsten. Plötzlich geht mir der
Gedanke durch den Kopf: Stirb! Und mit diesem Ge¬
danken seh ich ihn eine geraume Weile an. Er schläft
weiter und rührt sich nicht. Ich blicke wieder zum Fenster
hinaus in die beschneite Landschaft, wie es meine Art
ist, und vergesse den Kerl vollkommen. Wir kommen in
Wien an. Ich erhebe mich, steige aus, der andere nicht.
Der andere bleibt sitzen, regungslos. Ich rufe Leute herbei
man trägt ihn hinaus — er war tot ... tot. Die
Terzte nannten es Herzschlag.
Eduard: Jedenfalls ein sonderbarer Zufall.
Georg: Zufall? — Weißt Du venn, wie viel Tag für
Tag auf der Welt geschieht, weil es irgend jemand ins¬
geheim wollte — oder auch nur leichtfertig aussprach?
Ahnst Du etwas von der geheimnisvollen Macht, die in
schöpferischen Naturen steckt? — Ich begab mich zu einem
Kommissar und teilte ihm den Sachverhalt mit. „Setzen
Sie mich ins Gefängnis, Herr, sagte ich, „denn offenbar
hin ich es, der diesen Herrn ermordet hat. Dabei empfinde
ich nicht die geringste Reue.“ Aber der Kommissar setzte
mich nicht ins Gefängnis — er sah mich so einfältig an
wie Du und entließ mich wieder.
Ebenso originell ist die Auffassung Georgs darüber, daß
das wahre Talent gar keine Verpflichtung hat, der Mit¬
und Nachwelt tatsächliche Beweise seines Genies zu geben.
Es entspinnt sich zwischen Eduard und Georg das folgende
charakteristische Gespräch über dieses Thema:
Eduard: Damals schien es doch —
wir erwarteten
alle .. . Du warst doch auf dem Wege, etwas Großes Zu
werden.
Georg: Wer sagt Dir, daß ich es nicht geworden bin?
Müssen es denn die anderen merken? Wenn Du heute
Deine Oboe verkauftest, oder wenn Deine Finger und
Lippen gelähmt würden, daß Du nicht mehr blasen
könntest — wärest Du ein geringerer Virtuose als zuvor?
Oder nimm an, Du hättest keine Lust mehr und würfest
sie einfach zum Fenster hinaus, Deine Oboe, weil ihr
Klang Dir nicht genügte — wärst Du dann kein Künstler
mehr? Oder wärest Du vielmehr erst recht einer, wenn
Du's zum Fenster hinuntergeworfen hättest, Dein Instru¬
ment, das so ohnmächtig war im Vergleiche zu der gött¬
lichen Musik in Deinem Hirn?
Eduard: Ohnmächtig
ja! Sieh', was Du da sagst,
ich hab' es öfters gefühlt.
Georg: Nun, ich habe sie zum Fenster hinuntergeworfen,
meine Oboe. — Die Dummköpfe haben ausgeschrien: Es
*) S. Fischer, Verlag, Berlin. 1906. (148 S.).
teten Einakters näher einzugehen müssen wir uns aus
Raummangel schon versagen.
Ebenso können wir nur in aller Kürze verraten, daß
der dritte Einakter „Zum großen Wurstel, Burleske“ eine
trefflich gelungene Satire auf das moderne Dichtertum,
Schauspielertum und Theaterpublikum enthält.
Unseres Erachtens würden sich diese drei Schnitzlerschen
Einakter vorzüglich zu einem Leseabend des hiesigen
Vereins von Liebhabern dramatischer Literatur eignen.
Die Hoffnung, daß uns Petersburgern das deutsche
Gastsvielensemble Philipp Bocks gehaltyolle Novitäten
bringt, haben wir angesichts der diesjährigen ganz un¬
möglichen Repertoire=Zusammenstellung schon definitio
aufgegeben.
Philipp Bock hat offensichtlich seinen ganzen künstle¬
rischen Ehrgeiz dahin reduziert, daß er auf Grund seines
alten Renommees die „reichen“ Petersburger ganz gehörig
„abgrast“!
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