II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 99

doch in der That aus allen vier Stücken heraus. „Lebendige
Stunden“
welche Stunden unseres Lebens können wir
wohl mit Recht lebendige nennen? Zwei gegensätzliche Antworten
giebt es auf diese Frage, und nach diesen Antworten kann man
die Menschen in zwei Kategorieen sondern; in solche, denen
Leben nur Schaffen bedeutet, und solche, die im Genuß des
Augenblicks den Sinn des Lebens finden. Diese zwei Menschen¬
typen treten in allen vier Stücken Schnitzlers einander gegen¬
über, und zwar der erste in der speziellen Form des Künstlers,
für den alles Leben nur Sinn hat, wenn er selbst daraus wieder
Leben gestalten kann. Für den ferner Stehenden, oder sagen
wir: für den Alltagsmenschen mag es erscheinen, als wäre der
Künstler ein krasser Egoist, als wären ihm alle Ereignisse
des Lebens nur Stoff zum Kunstwerk — alle Ereignisse,
vor Allem auch der Schmerz. Am schärfsten wird dieser
Typus zu dem des Alltagsmenschen in Gegensatz ge¬
stellt im ersten Stück, das fast einer Disputation
über ein philosophisches Thema gleicht. Da ist ein Sohn,
dem die über Alles geliebte Mutter gestorben ist, und ein
alter Mann, dem in dieser Frau der beste Theil seines Selbst,
seine geliebte Freundin genommen ward. Die Frau, die an
unheilbarem Siechthum litt, ist freiwillig aus dem Leben ge¬
schieden, weil sie sah, wie surchtbar ihr qualvolles Leiden auf
die künstlerische Kraft des Sohnes wirkte. Nur dem Freunde
hat sie das mitgetheilt. Nun hat der alte Mann außer an
dem Gram über den Verlust der Freundin auch noch an dem
eifersüchtigen Grimm über den Sohn zu tragen, dessen
Künstlerart ihm wesensfremd ist, in dem er nur den Egoisten
sieht, der nichts mit den Unannehmlichkeiten und dem Leid des
Lebens zu thun haben will. In dieser Stimmung läßt er sich
hinreißen, dem jungen Mann den Selbstmord der
Mutter zu verrathen und ihm ihren Abschiedsbrief zu
geben
Jedoch aus der ersten Verzweiflung über
reißt
der
diese Erfahrung
Sohn gewaltsam
sich
winden; wenn es ihm gelingt, zum künstlerischen Schaffen
sich zurückzufinden, dann glaubt er,
des Opfers der
Mutter wurdig zu sein. Dem alten Freunde aber, dessen
ethisches Empfinden solche Worte aufs Höchste empören, pro¬
phezeit er, daß auch er allmälig durch das Leben, durch die
Arbeit über diesen Schmerz hinwegkommen werde... Wie eine
Disputation wirkt der Dialog. Man merkt Schnitzler den Arzt
an, der auf dem Präparirboden gelernt hat, alle Muskeln und
Nerven bloß zu legen, und der nun auch in seinen Szenen
gern die Gedanken scharf herausschält und unmittelbar ein¬
ander gegenüberstellt. Er erzielt damit einen gewissen äußeren
Spannungsreiz, zwingt den Zuhörer, mit zu disputiren, aber
die menschliche Wahrheit der Situation geht dabei leicht
verloren.
Auch das zweite Stück, „Die Frau mit dem Dolche“,
leidet unter diesem Fehler. Das Problem wirkt künstlich zu¬
recht geschnitten, und daher erweckt das Stück wohl jene
Stimmung, die man Interesse nennt, nicht aber unmittelbare
menschliche Theilnahme. Der Gegensatz zwischen dem Leben
des Künstlers und der Art, wie der gewohnliche Mensch das
Leben auf sich wirken läßt, ist hier nicht in dem Grade wie in
dem ersten Stücke Hauptmotiv.. Das eigentliche Problem
bietet ein Frauencharakter, und in seiner Analyse hat wiederum
der Arzt Schnitzler den Vortritt vor dem Künstler. Der#
Konflikt zwischen erotischer Leidenschaft und der großen Lieben
hat ihn gelockt: Paula, die Gattin eines Dichters, den sie anbetet
wie man das Göttliche anbetet, hat in ihrer Brust noch Raum#
für eine flüchtige, aber starke erotische Leidenschaft zu einem
hübschen Jüngling, mit dem sie innerlich nichts verbindet, zu
dem sie nur ein heißes sinnliches Verlangen zieht. Das ist
der psychologische, besser pathologische Fall, den Schnitzler
„demonstrirt“
Und zwar mit raffinirt theatralischen
Mitteln. Vor einem anonymen Renaissancegemälde in
der Gemäldegallerie, „Die Frau mit dem Dolche“, treffen sich
Paula und ihr Geliebter Leonard. Er hat ihr die seltsame
Aehnlichkeit zwischen ihr und dem rothhaarigen Räthselweibe
des Gemäldes zeigen wollen, und er hofft heute endlich von
ihr Erhörung. Aber Paula sieht nicht nur die Aehnlichkeit,
nein, sie fühlt plötzlich, daß sie selbst diese Frau mit dem
Dolche ist, und es erwacht in ihr, während Leonard ihr mit
wilden Worten seine Leidenschaft gesteht, etwas wie eine Er¬
innerung aus einem früheren Leben und plötzlich werden ihre
Phantasiegestalten Wirklichkeit: die Bühne verdunkelt sich, und,
als es wieder hell wird, sind wir in ein Schloßgemach der
Renaissancezeit versetzt und erleben die Geschichte der „Frau
mit dem Dolche“. Paola, des großen Malers Remigio schönes
Weib, hat sich in der Abwesenheit ihres vergötterten Gatten,
in einem Augenblicke des sinnlichen Rausches dem jungen Maler
Lionardo ergeben. Nun der Rausch vorüber, ist er ihr nicht
mehr als ein zerbrochenes Spielzeug, und ihre Seele jauchzt
dem endlich heimkehrenden Gatten zu. Vergeblich alles Flehen
und heiße Drängen Lionardos, vergeblich sein Drohen, als sie
ihn verächtlich bei Seite stößt, sich zu tödten. Es ist Tag ge¬
worden, die Nacht ist dahin, und sie weist ihm, der letzten Er¬
Er aber, dessen
innerung an die Nacht, die Thüre.
mit diesem Menschen zu schaffen? Wie sinnlos wäre
es, wenn er, der vor der Pforte des Todes erkennt,
wie hoch sein Leben über dem Jenes steht und stets
gestanden bat, vor ihm seine Seele prostituirte! Und er läßt
ihn gehen mit einem Händedruck und stirbt in Frieden. Ganz
rein wirkt auch dieses Stück nicht, denn manche Gewaltsamkeit
stört auch hier; aber es enthält doch überwiegend echtes Leben
und wahre Empfindung und wird kraft seines schönen Motives
nachhaltig wirken.
Das Schlußstück, „Literatur“ ist sozusagen das Satyr¬
spiel nach der Tragödie. Hat Schnitzler in den drei ersten
Einaktern den Künstler als den Träger des wahren Lebens
hingestellt und ihm die Anschauung der Anderen als die
geringwerthige entgegengehalten, so giebt er hier umgekehrt den
Anstandsbegriffen des guten Durchschnitts gegenüber der
Künstlermoral Recht; aber diese Künstler sind nicht die großen,
sondern die kleinen Talente, die aufgeblasenen mit dem Ruhme
von Gegenseitigkeits Gnaden, — die literarische Bohème, die
ihre schmutzigen Bekenntnisse in naturalistischen Büchern mit
der künstlerischen Selbstbefreiung der Großen keck auf eine
Stufe setzt und überzeugt ist, daß der schmutzige Hemdkragen
und die Formlosigkeit zum Genie unweigerlich gehören.
Dieser Bohème ist die Heldin des Stückes glücklich entronnen
und hat sich einen reichen Sport=Baron gekapert, vor dem sie
als Unschuldslamm paradirt. Diese beiden Gestalten und die
dritte Person des Stückes, ein alter Bohémien, der recht un¬
bequem zum Besuch kommt, sind mit überlegenem Humor charakte¬
risirt. Die zahlreichen Pointen des Dialogs versetzten die
Hörer in beste Stimmung. Wie die Verlobte des Barons es
fertig bringt, die Enthüllung ihres Vorlebens zu verhindern
und alle Gefahren von ihrer Eheschließung abzulenken, das
kann man nicht erzählen, ohne die schonsten Poinien zu
knicken, die übrigens durch die Darstellung — Frl. Triesch
und die Herren Bassermann und Rittner — ganz
glänzend herausgebracht wurden. Die Zuhörer geriethen oft
in stürmische Heiterkeit, und der endliche Erfolg war un¬
gewöhnlich stark. Der Darstellung fällt auch bei den ersten
drei Stücken großes Verdienst zu. Im ersten stand Herr
Rittner im Mittelpunkt, während Herr Reinhard nicht:
recht am Platze war, und Herr Fischer einer kleinen Episoden¬
rolle sein großes Können schenkte; im zweiten bot Frl. Triesch,
namentlich auch im Spiele der Gebärden, eine herrliche
Leistung; im dritten gebührt den Herren Reinhard, Fischer
und Bassermann, der aus geringen Andeutungen des¬
Dichters einen ganzen Charakter schuf, großes Lob.