II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 98

Konflikt zwischen erotischer Leidenschaft und der großen Liebe
hat ihn gelockt: Paula, die Gattin eines Dichters, den sie anbetet,
wie man das Göttliche anbetet, hat in ihrer Brust noch Raums
für eine flüchtige, aber starke erotische Leidenschaft zu einem
hübschen Jüngling, mit dem sie innerlich nichts verbindet, zus
dem sie nur ein heißes sinnliches Verlangen zieht. Das ist
der psychologische, besser pathologische Fall, den Schnitzler
„demonstrirt“.
Und zwar mit raffinirt theatralischen
Mitteln. Vor einem anonymen Renaissancegemälde in
der Gemäldegallerie, „Die Frau mit dem Dolche“, treffen sich
Paula und ihr Geliebter Leonard. Er hat ihr die seltsame
Aehnlichkeit zwischen ihr und dem rothhaarigen Räthselweibe
des Gemäldes zeigen wollen, und er hofft heute endlich von
ihr Erhörung Aber Paula sieht nicht nur die Aehnlichkeit,
nein sie fühlt plötzlich, daß sie selbst diese Frau mit dem
Dolche ist, und es erwacht in ihr, während Leonard ihr mit
wilden Worten seine Leidenschaft gesteht, etwas wie eine Er¬
innerung aus einem früheren Leben und plötzlich werden ihre
Phantasiegestalten Wirklichkeit: die Bühne verdunkelt sich, und,
als es wieder hell wird, sind wir in ein Schloßgemach der
Renaissancezeit versetzt und erleben die Geschichte der Frau
mit dem Dolche“ Paola, des großen Malers Remigio schönes
Weib, hat sich in der Abwesenheit ihres vergötterien Gatten,
in einem Augenblicke des sinnlichen Rausches dem jungen Maler
Lionardo ergeben. Nun der Rausch vorüber, ist er ihr nicht
mehr als ein zerbrochenes Spielzeug, und ihre Seele jauchzt
dem endlich heimkehrenden Gatten zu. Vergeblich alles Flehen
und heiße Dränge. Lionardos, vergeblich sein Drohen, als sie
ihn verächtlich bei Seite stößt, sich zu tödten. Es ist Tag ge¬
worden, die Nacht ist dahin, und sie weist ihm, der letzten Er¬
innerung an die Nacht, die Thüre.
Er aber, dessen
ganzes Leben damit zerstort ist, bleibt und wünscht sich nur
den Tod von Remigios Hand. Diesen jedoch läßt das Ge¬
ständniß, das ihm Lionardo entgegenschleudert, kalt. Er lebt
in einem andere Leben, zu dem Lionardo keinen Zutritt hat,
und hochmüthig heißt er ihn gehen. Lionardo tobt und rast,
aber nichts reizt den Künstler Remigio; auch als Lionardo
nun jäh seine Stimmung wechselt und in glühendem Haß
ihn zu tödten schwört, bleibt Remigio unbewegt. Paola
aber bebt in tödlicher Angst vor Lionardos That, und in dem
Aufruhr ihrer Gefühle ergreift sie den Dolch und stößt ihm
Lionardo, der sich eben zum Gehen gewendet, mit wilder
Kraft ins Herz. Und Remigio? Für ihn bedeutet dieser
Moment die endliche Inspiration fur Paolas Bild, das er
begonnen, aber bis dahin nicht hat vollenden können. Hier
liegen seine „lebendigen Stunden“ ... Das ist die Geschichte
von Paola und Lionardo, die vor Jahrhunderten sich zu¬
getragen, und das wird auch die Geschichte von Paula und
Leonard werden; denn als Paula aus ihrem weltentrückten
Sinnen wieder ermacht und sich wieder in der Bildergallerie
ger Goldschene,
und Leonards heißem Drängen gegenüber findet, da gewährt
sie ihm, dem sie noch eben aufs Nimmerwiedersehen hat Lebe¬
O7.
+ Bureau für 4
wohl sagen wollen, mit einem räthselhaften Blick seine heiße
Zeitungsausschnitte und Verlag
Bitte. Sie wird in der Nacht zu ihm kommen, es soll die
der Wissenschaftlichen Revue.
letzte Nacht sein, bevor sie mit dem Gatten die Stadt
es
verläßt,
wird Leonards letzte Nacht werden.
BERLIN M., Auguststr. 87 part.
Paulas Gatten lernen wir nur in der Traumgestalt
Telephon Amt III, No. 3051.
des Remigio und aus der Schilderung Leonards


kennen: er ist ein Künstler wie Remigio dem die
Ausschnitt
Gabe geworden ist, seine Seelenerlebnisse im Kunstwerk zu
Telenranm-Heireset
G0LOSCHMIDT. Auguststr.87.
objektiviren. Doch tritt, wie gesagt, dieses Motiv mehr in den
aus
Hintergrund.
Menschlich am einfachsten und deshalb am meisten un¬
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mittelbar packend ist das dritte Stück „Die letzten
Masken“. Die Szene ist in einem Spital. Ein Sterben¬
Norddouteche Allgemeine Zchung, Berlin
der äußert den dringenden Wunsch, noch ein Mal einen früheren
Freund, dem berühmten Dichter Weihgast, zu sehen. Der Arzt
willfahrt schließlich dem Flehen des Kranken und holt den
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Dichter. Inzwischen aber erfahren wir den Grund, warum
der Sterbende diese letzte Begegnung ersehnt hat. Nicht um
ihm noch einmal die Hand zu drücken, sondern um ein einziges
Mal all den Haß ihm ins Gesicht zu schreien, mit dem ihn
sein Leben, das Leben eines stets Erfolgverlassenen, gegen den
Theater und Musik.
erfolgreichen einstigen Freund erfüllt hat und vor Allem,
G. Z. Von ArthurSchnitler kamenam Sonnabend im
um ihm zu sagen, daß der Verachtete und von ihm
Deutschen Theater vier neue Einakter zur ersten Auf¬
in den Hintergrund Gedrängte, zwei Jahre die Gattin
führung, über deren äußeren Erfolg ich bereits in der zweiten
des eitlen Mannes zur Geliebten gehabt hat; um ihm
Sonntagsausgabe berichtet habe. „Lebendige Stunden“ be¬
zu sagen, wie nichtig in Wahrheit das Leven des berühmten
titelt Schnitzier die vier Stucke mit einem gemeinsamen Namen.
Mannes gewesen. Die Art, wie wir diese Geschichte erfahren,
Da das erste Stück der Reihe selbst den Namen „Lebendige
ist wiederum rein theatralisch: ein Leidensgenosse im Spital,
Stunden“ führt, so könnte man glauben, Schnitzler folge der
der Schauspieler ist, fordert den Sterbenden auf, vor ihm
Sitte mancher Novellisten, die ihre Sammlung ganz
quasi eine Generalprobe der großen Abrechnung abzuhalten,
äußerlich nach der ersten Novelle betiteln. Aber Schnitzler
und der Sterbende geht auf den Vorschlag ein, denn er
will mehr: er will auf einen gemeinsamen Inhalts¬
fürchtet, daß vielleicht seine Kräfte nicht ausreichen könnten.
kern der im Uebrigen ganz verschiedenen Stücke hinweisen.
Als nun der Langerwartete eintritt und sich in all seiner
Ein wenig künstlich erscheint ja freilich diese Subsumirung
inneren Nichtigkeit zeigt, mit leerem, konventionellem, heuchle¬
unter einen Begriff, wie auch der gemeinsame Titel an sich
rischem Geschwätz die Zeit hinbringt, da geht mit dem
etwas gekünstelt klingt; aber ein gemeinsames Problem schaut Sterbenden eine große Wandlung vor: was hat er
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