II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 139

steht und mit dem Leben, das ihm so viele
„Tebendige Stunden“ von Arthur
Enttäuschungen brachte, abrechnen möchte, hält
sich der andere für genesen und schmiedet die
Schnitzler.
schönsten Pläue für die Zukunft. Der Arzt
Berlin, 5. Jänner. macht seinen Abendbesuch. Rademacher bittet
Arthur Schnitzler, unstreitig das
ihn flehentlich, ihm noch schnell einen heißen
stärkste Talent der jüngeren Wiener Schule,
Wunsch zu erfüllen: er möchte seinen Jugend¬
hat mit seinem neuesten Einacter=Quartett
freund, den Schrifsteller Weihgast noch diesen
„Lebendige Stunden"*) am Deutschen
Abend sprechen, da er ihm etwas sehr Wichti¬
Fur 50 Theater einen ziemlich gedämpft einsetzenden,
100
ges mitzutheilen habe. Der Arzt, der mit Weih¬
200 dann aber ständig steigenden und zuletzt mächtig
gast befreundet ist, verspricht, ihn zu bringen.
500 anschwellenden Erfolg erzielt. Die vier Stücke,
Der Schauspieler fragt neugierig, was Rade¬
„ 1000 die ungleich in jeder Hinsicht sind, haben nur
macher denn noch so Eiliges zu beichten habe,
lm das Eine gemeinsam, daß in sämmtlichen Ver¬
und dieser entgegegnet: er wolle sich vor seinem
Abonnem treter der Literatur und Kunst die Hauptrollen
Ende die Genugtthuung verschaffen, dem ehema¬
Abonnen spielen. Der Gesammttitel „Lebendige Stunden“.
ligen Freunde, der unverdient so große äußer¬
ist ziemlich willkürlich dem Titel des ersten
liche Erfolge im Leben davongetragen habe,
D Stückchens entlehnt, das diese Ehre umso
unverblümt zu sagen, daß er ihn stets in seiner
Inhalts weniger verdiente, als es das schwächste unter
ganzen Hohlheit durchschaut habe, ja daß sich
blütt den vieren ist. Von des Gedankens Blässe an¬
wodarel
sogar die eigene Gattin des „großen“ Mannes
gekränkelt, behandelt dieser Auftact zu den
des In
angeekelt von ihm abgewandt und ihre Liebe
werden folgenden, lebensvollen und zeistsprühenden
dem verkannten, vom Schicksal so arg mitge¬
Dichtungen die erklügelte Frage, ob das ganze
nommenen Journalisten geschenkt habe. Als
dichterische Schaffen des Sohnes auch nur eine
dann aber Weihgast wirklich kommt und mit
„Lebendige Stunde“ der Mutter aufzuwiegen
seiner hohlen Schönrednerei nichtssagende
vermag. Eine unheilbar erkrankte Mutter hat
Redensarten drechselt und innige Freundschaft
sich nämlich mit Morphium vergistet, um ihren
heuchelt, da bringt es der Sterbende theils vor
Sohn vom Anblick ihrer Leiden zu befreien
Ekel, theils aus Mitleid nicht fertig, dem Leben¬
und ihn seinem Dichterberuf wiederzugeben.
den die letzte Maske vom Gesicht zu reißen,
Das zweite Schauspiel „Die Frau mit
und im Gefühl seiner ganzen Größe und Uiber¬
dem Dolche“ wirkt mehr durch virtuose Technik
legenheit nimmt der aufgeblasene Dichter von
und äußerliche Effecte, als durch innere Vor¬
dem sterbenden Jugendfreunde Abschied. Es ist
züge und dichterische Eigenschaften. Eine junge,
eine ungemein feine psychologische Studie, die
hysterische Frau gibt sich mit ihrem Liebhaber
Schnitzler hier im engen Rahmen aufrollt, tief¬
ein Stelldichein in einem Bildermuseum vor
gründig und lebenswahr, voll bitterer Satire
einem italienischen Gemälde aus dem 15. Jahr¬
und nicht ohne weitere Ausblicke auf die Nichtig¬
hundert. Die hier mit dem Dolche dargestellte keit alles Irdischen im Angesicht des Todes und
Frau hat eine frappante Aehnlichkeit mit ihr,
der Ewigkeit.
und je länger sie diese Frau betrachtet, desto
Den Vogel aber hat der Verfasser mit
bestimmter wird ihre Uiberzeugung, daß sie die
dem vierten und letzten Stück abgeschossen, das
hier im Bilde dargestellte Scene vor langer,
er bescheiden einen Schwank „Literatur“ nennt
tanger Zeit selbst erleht hat, und zwar mit
und das thatsächlich eine mit glänzendem Witz,
demselben jungen Manne, der ihr jetzt zur
überlegenem Geist und funkelnder Laune ge¬
Seite sitzt. Die Bühne verdunkelt sich plötzlich,
schriebene Satire auf jene Kaffeehausliteraten
der Vorhang sällt, und als er sich nach einigen
ist, die, an eigenen Gedanken zu arm, ihre
Augenblicken wieder hebt, sehen wir dieselbe
kleinen Erlebnisse zu langen Romanen auszu¬
Frau mit dem jungen Manne in der Tracht
münzen suchen. Sie entblößen sich und ihre
der Renaissance=Zeit vor uns. Auf einer
„stilisirten“ Leiden und Freuden ohne Bedenken
Staffelei steht das halbvollendete Bild der
vor der Welt, nur um sich einmal gedruckt zu sehen.
Frau mit dem Dolche, von dem Gatten
Sie geißelt Schnitzler in dieser übermüthigen
gemalt. Dieser kehrte von einer Reise nach
Komödie, die zu dem Lustigsten und Unter¬
Florenz heim, die Frau gesteht ihm, daß sie
haltendsten gehört, was man seit lange auf
ihn während seiner Abwesenheit betrogen habe,
der deutschen Bühne gesehen hat. Der litera¬
und ersticht vor seinen Augen ihren Verführer
rische Feinschmecker kommt hier so auf seine
mit dem Dolche. Der Gatte, der nur Künstler
Rechnung, wie der naive Zuschauer, der nur
ist, ergreift sofort den Pinsel und die Palette,
lachen will. Die Handlung ist hier Nebensache,
um sein Werk nach den eben gewonnenen blu¬
die Behandlung Alles: die prächtige Zeichnung
#tigen Eindrücken zu vollenden. Die Frau wen¬
der drei Personen, des kunstfremden, am liebsten
det sich mit Verachtung von ihm, die Bühne
Stallluft athmenden Barons, der schriftstellern¬
verdunkelt sich abermals und wir werden in
den Frau mit der Vergangenheit, die sich eine
das Museum zurückversetzt, wo die aus ihrem
ehrbare Zukunft schaffen will und des literari¬
Traume erwachende Frau dem Liebhaber das
schen Zigeuners, der das Leben in vollen Zügen
lange verweigerte Versprechen gibt, ihn Abends
genießen will, dazu der vollgefüllte Sack geist¬
besuchen zu wollen. Man weiß nicht recht, was
reicher Literaturbosheiten. Alles in Allem: ein
man aus diesem merkwürdigen Capriccio machen
sehr glücklicher Abend, der für viele „Fehlgriffe
soll. Ist es eine neue Variation auf das Thema
von der Seelenwanderung? Oder von der sich
dieses Winters entschädigen konnte!.“ H. E.
durch die Jahrhunderte gleich bleibenden Lust
am Betrügen des Ewig=Weiblichen? Jedenfalls
ist das Stück effectvoll und fesselnd.
Ungleich höher, dichterisch werthvoller ist
das dritte Schauspiel „Die letzten Masken“ zu
veranschlagen. Im Wiener Allgemeinen Kran¬
kenhause liegt der Journalist Rademacher im
Sterben. Der ebenfalls dem Tode verfallene
Schauspieler Jackwerth ist sein Zimmernachbar.
Während der eine weiß, daß sein Ende bevor¬
*) Arthur Schnitzlers „Lebendige Stunden“
sind joeben in Buchform im Verlag von S. Fischer
in Berlin erschienen.