1
16.1. Lebendige Stunden Zyklus
box 21/2
## Berliner Brief.
unterlassen wird. Einen Gewinnst davon haben nur die Luxus= vier— ob
papierhändler, die Neujahrs= und Visiten=Karten=Stecher und =Litho¬
10. Januar.
anmuthet
graphen, die illustrirenden Künstler und die Kaiserliche Reichs¬
Die erste Woche des neuen Jahres hat uns in ihren letzten
bestätigen.
post; die ärgsten Plage aber erwächst daraus den Briefträgern.
Tagen ein Paar der bedeutsamsten Ereignisse gebracht: die Eröff¬
Der
Wenn auch nicht in ähnlicher Massenhaftigkeit wie die
nung des Landtages der preußischen Monarchie und die Rede des
„Lebendig
Gratulationskarten am ersten Tage des neuen Jahres, so doch in
Reichskanzlers über Deutschlands Stellung innerhalb der großen
pensionirten
einer Wunsch und Bedürfniß weit überschreitenden Zahl trafen in
Familie der Mächte und seine auswärtige Politik. Wenn auch
tiefsten, in
den nächstfolgenden Tagen die Aufrufe zur Betheiligung an fest¬
der Platz für die Besprechung und Erörterung dieser Ereignisse
den Tod
lichen Veranstaltungen, die Gesuche um Beiträge und zum Wirken
nicht ein „Berliner Brief“ und das Feuilleton der Zeitung ist, so
gewesenen
für ihr Gelingen und auch die Einladungen zu allen Arten von
dürfte es doch nicht unstatthaft sein, auch hier zu erwähnen, mit
den jenes
Festen und Aufführungen ein, die an verschiedenen Januartagen
welcher Geungthuung Graf Bülow's staatsmännisch= rednerisches
und Lebens
stattfinden sollen. Das Schlimmste dabei ist, daß die Menge
Meisterstück die deutschen Seelen in der Reichshauptstadt erfüllt
daß jener n
dieser Veranstaltungen zu groß ist, um auf jeden Tag immer eine
hat. Für die politischen Menschen unter uns tritt nun für die
kann
zu verlegen. Gewöhnlich drängen sich ihrer drei oder vier, denen man
nächsten Monate gegen das Interesse an den Verhandlungen beider
hinzu
beiwohnen sollte, in denselben Stunden desselben Tages zusammen.
gleichzeitig tagenden Parlamente jedes andere zurück. Aber eine
was
So war es am Abende des 4. d. M. An ihm wurde das zum
nicht geringe Zahl von Berlinern bleibt, trotz der Wichtigkeit der
letzten
Besten des Vereins Berliner Presse und seines Unterstützungsfonds
in den hohen Häusern am Königsplatz und an der Prinz Albrecht¬
weld
arrangirte Fest im Reichstaggebäude abgehalten, dessen Haupttheil
Straße zur Berathung bezw. Entscheidung kommenden großen Fragen,
ein großes „Promenadenconcert“ in der prächtigen Wandelhalle!
inbezug auf diese Verhandlungen indifferent oder doch gleichmüthig
und dessen Nachspiel das Soupiren nach der Karte in den
genug, um zahlreichen, durchaus unpolitischen Gegenständen und
ze
Restaurationsräumen dieses Palastes bildete. Gleichzeitig feierte man
Vorgängen dieselbe Aufmerksamkeit zuzuwenden und denselben leb¬
er
in sämmtlichen Räumen der Philharmonie das Fest der berliner
haften Antheil daran zu nehmen wie während der gänzlich parla¬
italienischen Colonie zum Besten der hiesigen hülfsbedürftigen Lands¬
mentlosen Ferienwochen und Jahresperioden. Auch für diese Un¬
leute. Und gleichzeitig gingen auch in. Deutschen Theater zum
politischen hat die erste Jahreswoche bereits verschiedene derartige
ersten Male die neuen vier Einacter von Arthur Schnitzler unter
Ereignisse gebracht, welche solcher Antheilnahme nicht unwerth
dem gemeinsamen, sehr gekünstelten und gesuchten, überzeugend nicht
waren. Eines davon, welches alle, und nicht zum wenigsten auch
zu motivirenden Titel „Lebendige Stunden“ in Scene.
die Politischen, schmerzlich erregt hat, war der traurige Unfall, der
Was in den öffentlichen Blättern über jene beiden Feste be¬
dem greisen Rudolf Virchow beim Absteigen von einem sektrischen
richtet wird, klingt so schön, daß es in dem nicht dabei gewefenen
Straßenbahnwagen zugestoßen ist. Ein Schenkelknochen# uch, den
Leser fast ein Bedauern seines Ferngebliebenseins und ein ge¬
sich ein im einundachtzigsten Lebensjahre stehender Mensch zuzieht,
wisses Neidgefühl gegen die Glücklicheren erregen könnte, welche
ist in jedem Falle eine ernste Sache. Wenn auch die tröstliche
diese Herrlichkeiten mitgenossen haben. Wenn man aber von den
Nachricht verbreitet wurde, daß der Zustand des berühmten Patienten
Theilnehmern im Vertrauen über das an jenem Abende dort im
ein verhältnißmäßig befriedigender sei und zu Besorgnissen keine
Reichstagshause Gesehene, Gehörte und Erlebte berichten hört,
Veranlassung gebe, so muß sich doch jeder selbst sagen, daß, wie
so werden jene Gefühle nicht nur stark gedämpft, sondern
günstig auch der Heilungsproceß verlaufe, eine völlige Wieder¬
radical ausgetilgt und in ihr Gegentheil verwandelt. Da¬
gewinnung der früheren ungehinderten Beweglichkeit des be¬
schädigten Beines in so
gegen scheint der Verlauf des italienischen Festes mit all seinen
hohem Lebensalter kaum noch
lustigen Episoden, seinen Maskenscherzen, Spielen, seinen
zu erhoffen sei. Die Glückwünsche, mit welchen der Jubilar noch
Gesangs= und Guitarrevorträgen, seinen Tänzen, seinem Lotto, Bescha
jüngst gelegentlich seines achtzigsten Geburtstages von Nah und
seinen Bazarbuden und Zelten außerordentlich befriedigend, das
Fern überschüttet worden ist, haben — wie die meisten, die uns
wie von ein
Ganze in allen Einzelheiten und die herrschende allgemeine Stimmung
so massenhaft am Neujahrsmorgen zugehen —
das Bewußtf
auf das Geschick
ungemein ergötzlich und harmlos heiter gewesen zu sein. Graf
dessen, dem sie galten, einen günstigen Einfluß jedenfalls nicht
dem Dolche
Lanza, der italienische Botschafter, hat dem bunten, carnevalistischen
auszuüben vermocht. Dieselbe Erscheinung hat jeder Mensch an
Bühne verdu
Treiben seiner lieben Landsleute bis nach ein Uhr nachts mit
sich und Andern so oft zu machen gehabt, daß man endlich an¬
Momente wie
freundlicher Theilnahme zugeschaut.
fangen könnte, auf diese alte Gewohnheit des gegenseitigen Be¬
Werkstatt ein
Schnitzlers kleinere und größere, dem wiener Leben abgelauschte
glückwünschens wenigstens zum neuen Kalenderjahre zu verzichten.
Das begonne
wie rein aus seiner dichterischen Phantasiewelt geschöpfte Dramen
Aber alle auf ihre Ausrottung gerichteten Bestrebungen, an denen
Hand, steht
sind im er originell und in hohem Grade anregend und fesselnd
es nie gefehlt hat, haben sich noch stets als fruchtlos erwiesen.
Paula, im
gewesen. Alle trugen den Stempel eines ungewöhnlichen feinen,
Es wird immer wieder „zu Neujahr gratulirt", und die Leute sterben
glückten Lieb
kühnen dichterischen Geistes, eines Pocten, der reich veranlagt, reich
nicht aus, die es übelnehmen und fast als eine Kränkung ansehen,
berauscht ist
an innerlichen Erlebnissen und Erfahrungen ist, scharf beobachtet, der Dame ist
###enn es von einem ihrer Bekannten oder gar ihrer Untergebenen tief und stark empfunden und ernstlich gedacht hat. Diese neuesten Gatten, der J#
16.1. Lebendige Stunden Zyklus
box 21/2
## Berliner Brief.
unterlassen wird. Einen Gewinnst davon haben nur die Luxus= vier— ob
papierhändler, die Neujahrs= und Visiten=Karten=Stecher und =Litho¬
10. Januar.
anmuthet
graphen, die illustrirenden Künstler und die Kaiserliche Reichs¬
Die erste Woche des neuen Jahres hat uns in ihren letzten
bestätigen.
post; die ärgsten Plage aber erwächst daraus den Briefträgern.
Tagen ein Paar der bedeutsamsten Ereignisse gebracht: die Eröff¬
Der
Wenn auch nicht in ähnlicher Massenhaftigkeit wie die
nung des Landtages der preußischen Monarchie und die Rede des
„Lebendig
Gratulationskarten am ersten Tage des neuen Jahres, so doch in
Reichskanzlers über Deutschlands Stellung innerhalb der großen
pensionirten
einer Wunsch und Bedürfniß weit überschreitenden Zahl trafen in
Familie der Mächte und seine auswärtige Politik. Wenn auch
tiefsten, in
den nächstfolgenden Tagen die Aufrufe zur Betheiligung an fest¬
der Platz für die Besprechung und Erörterung dieser Ereignisse
den Tod
lichen Veranstaltungen, die Gesuche um Beiträge und zum Wirken
nicht ein „Berliner Brief“ und das Feuilleton der Zeitung ist, so
gewesenen
für ihr Gelingen und auch die Einladungen zu allen Arten von
dürfte es doch nicht unstatthaft sein, auch hier zu erwähnen, mit
den jenes
Festen und Aufführungen ein, die an verschiedenen Januartagen
welcher Geungthuung Graf Bülow's staatsmännisch= rednerisches
und Lebens
stattfinden sollen. Das Schlimmste dabei ist, daß die Menge
Meisterstück die deutschen Seelen in der Reichshauptstadt erfüllt
daß jener n
dieser Veranstaltungen zu groß ist, um auf jeden Tag immer eine
hat. Für die politischen Menschen unter uns tritt nun für die
kann
zu verlegen. Gewöhnlich drängen sich ihrer drei oder vier, denen man
nächsten Monate gegen das Interesse an den Verhandlungen beider
hinzu
beiwohnen sollte, in denselben Stunden desselben Tages zusammen.
gleichzeitig tagenden Parlamente jedes andere zurück. Aber eine
was
So war es am Abende des 4. d. M. An ihm wurde das zum
nicht geringe Zahl von Berlinern bleibt, trotz der Wichtigkeit der
letzten
Besten des Vereins Berliner Presse und seines Unterstützungsfonds
in den hohen Häusern am Königsplatz und an der Prinz Albrecht¬
weld
arrangirte Fest im Reichstaggebäude abgehalten, dessen Haupttheil
Straße zur Berathung bezw. Entscheidung kommenden großen Fragen,
ein großes „Promenadenconcert“ in der prächtigen Wandelhalle!
inbezug auf diese Verhandlungen indifferent oder doch gleichmüthig
und dessen Nachspiel das Soupiren nach der Karte in den
genug, um zahlreichen, durchaus unpolitischen Gegenständen und
ze
Restaurationsräumen dieses Palastes bildete. Gleichzeitig feierte man
Vorgängen dieselbe Aufmerksamkeit zuzuwenden und denselben leb¬
er
in sämmtlichen Räumen der Philharmonie das Fest der berliner
haften Antheil daran zu nehmen wie während der gänzlich parla¬
italienischen Colonie zum Besten der hiesigen hülfsbedürftigen Lands¬
mentlosen Ferienwochen und Jahresperioden. Auch für diese Un¬
leute. Und gleichzeitig gingen auch in. Deutschen Theater zum
politischen hat die erste Jahreswoche bereits verschiedene derartige
ersten Male die neuen vier Einacter von Arthur Schnitzler unter
Ereignisse gebracht, welche solcher Antheilnahme nicht unwerth
dem gemeinsamen, sehr gekünstelten und gesuchten, überzeugend nicht
waren. Eines davon, welches alle, und nicht zum wenigsten auch
zu motivirenden Titel „Lebendige Stunden“ in Scene.
die Politischen, schmerzlich erregt hat, war der traurige Unfall, der
Was in den öffentlichen Blättern über jene beiden Feste be¬
dem greisen Rudolf Virchow beim Absteigen von einem sektrischen
richtet wird, klingt so schön, daß es in dem nicht dabei gewefenen
Straßenbahnwagen zugestoßen ist. Ein Schenkelknochen# uch, den
Leser fast ein Bedauern seines Ferngebliebenseins und ein ge¬
sich ein im einundachtzigsten Lebensjahre stehender Mensch zuzieht,
wisses Neidgefühl gegen die Glücklicheren erregen könnte, welche
ist in jedem Falle eine ernste Sache. Wenn auch die tröstliche
diese Herrlichkeiten mitgenossen haben. Wenn man aber von den
Nachricht verbreitet wurde, daß der Zustand des berühmten Patienten
Theilnehmern im Vertrauen über das an jenem Abende dort im
ein verhältnißmäßig befriedigender sei und zu Besorgnissen keine
Reichstagshause Gesehene, Gehörte und Erlebte berichten hört,
Veranlassung gebe, so muß sich doch jeder selbst sagen, daß, wie
so werden jene Gefühle nicht nur stark gedämpft, sondern
günstig auch der Heilungsproceß verlaufe, eine völlige Wieder¬
radical ausgetilgt und in ihr Gegentheil verwandelt. Da¬
gewinnung der früheren ungehinderten Beweglichkeit des be¬
schädigten Beines in so
gegen scheint der Verlauf des italienischen Festes mit all seinen
hohem Lebensalter kaum noch
lustigen Episoden, seinen Maskenscherzen, Spielen, seinen
zu erhoffen sei. Die Glückwünsche, mit welchen der Jubilar noch
Gesangs= und Guitarrevorträgen, seinen Tänzen, seinem Lotto, Bescha
jüngst gelegentlich seines achtzigsten Geburtstages von Nah und
seinen Bazarbuden und Zelten außerordentlich befriedigend, das
Fern überschüttet worden ist, haben — wie die meisten, die uns
wie von ein
Ganze in allen Einzelheiten und die herrschende allgemeine Stimmung
so massenhaft am Neujahrsmorgen zugehen —
das Bewußtf
auf das Geschick
ungemein ergötzlich und harmlos heiter gewesen zu sein. Graf
dessen, dem sie galten, einen günstigen Einfluß jedenfalls nicht
dem Dolche
Lanza, der italienische Botschafter, hat dem bunten, carnevalistischen
auszuüben vermocht. Dieselbe Erscheinung hat jeder Mensch an
Bühne verdu
Treiben seiner lieben Landsleute bis nach ein Uhr nachts mit
sich und Andern so oft zu machen gehabt, daß man endlich an¬
Momente wie
freundlicher Theilnahme zugeschaut.
fangen könnte, auf diese alte Gewohnheit des gegenseitigen Be¬
Werkstatt ein
Schnitzlers kleinere und größere, dem wiener Leben abgelauschte
glückwünschens wenigstens zum neuen Kalenderjahre zu verzichten.
Das begonne
wie rein aus seiner dichterischen Phantasiewelt geschöpfte Dramen
Aber alle auf ihre Ausrottung gerichteten Bestrebungen, an denen
Hand, steht
sind im er originell und in hohem Grade anregend und fesselnd
es nie gefehlt hat, haben sich noch stets als fruchtlos erwiesen.
Paula, im
gewesen. Alle trugen den Stempel eines ungewöhnlichen feinen,
Es wird immer wieder „zu Neujahr gratulirt", und die Leute sterben
glückten Lieb
kühnen dichterischen Geistes, eines Pocten, der reich veranlagt, reich
nicht aus, die es übelnehmen und fast als eine Kränkung ansehen,
berauscht ist
an innerlichen Erlebnissen und Erfahrungen ist, scharf beobachtet, der Dame ist
###enn es von einem ihrer Bekannten oder gar ihrer Untergebenen tief und stark empfunden und ernstlich gedacht hat. Diese neuesten Gatten, der J#