II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 174

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Von den Berliuer Thealern.
Berlin, 11. Januar 1902.
Das neue Jahr hat so neutral und gleichgiltig begonnen,
wie das alte geendet hat. Eine verzagte Müdigkeit liegt
über der modernen Litteratur. Das alte Jahr noch hat
Für
50 0 uns zu guterletzt die Enttäuschung gebracht, daß wir
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auch von dem Dichter, den wir von Anfang an am
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meisten gepriesen hatten, von Gerhart Hauptmann, nichtsselusive
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mehr zu hoffen hätten. Arthur Schnitzler hat uns in orto.
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diesen Tagen mit vier kleinen Comödien bekannt gemacht, ####bar
bei deren Lesen oder Anhören man das peinliche Gefühl voraue.
im Oder schweren gequälten Arbeit nicht los wird, als wenn
Abonnement jeder Satz, jeder Gedanke mühsam ergrübelt und dem ist dus
Abonnenten widerspenstigen Gehirn abgezwungen wäre. Schnitzler stehtt es den
vor derselben tragischen Perspective wie Hauptmann. Die
Der keinen zarten psychologischen Linien der „Liebelei“ und die
Inhaltsangab#romatische Geschlossenheit und Wucht des „Grünen
blätter (7, akadu“ haben einer erquälten dakadenten Psychologie fnd die
nd den Untugenden der dramatischen Seizze den Platz irgen¬
woauren eine eräumt. So stehen wir im neuen Jahr da mit den situng“)
Leben des lttragen des alten, voller Niedergeschlagenheit und voll von nitliche
rhellungen wehlißmuth. In uns zerspalten, zersplittert und fiebrig er= #e Mit¬
egt, suchen wir den Ruhezustand des Genesenden, suchen
#ir den Einheitszustand der Persönlichkeit, die all ihr
Bissen, ihre Welt und Lebenserfahrung in ein innerlich
abgeschlossenes, widerspruchsloses Seelenleben künstlerisch
usammenbringt, unbeirrt ihren Weg geht, weil ihr das
bis
n zum Gewissen wurde, weil alles organisch in ihr
zu
mmengewachsen ist. Nur dieser Weg führt zur Er¬
euerung.
Arthur Schnitzler gibt seinen vier Einactern, die am
rgangenen Sonnabend das „Deutsche Theater“ meisterlich
ufführte, den Gesammttitel „Lebendige Stunden“.
Lebendige Stunden sind die Stunden unseres Lebens, in
denen sich die ganze Fülle des Lebensbewußtseins zu uns
drängt, in denen es hell um uns wird, daß wir meinen,
ein Stückchen Erkenntniß, Wesensbewußtsein zu fühlen.
Stunden, die uns aus dem engen Kreise des Persönlichen
des Individuellen herausrücken und uns zu dem Weitblick
führen, der über das ganze Dasein dahinschaut und bis
zu den letzten Verborgenheiten, den tiefsten Lebensräthseln
fortschweift. Dieser Gedanke ist groß, er ist imponirend.
Wie stellt sich nun Schnitzler zu diesem Gedanken, zu dieser
Fülle der Gesichte die lebendig aufsteigen? Der erste Ein¬
acter, den er selbst „Lebendige Stunden“ nennt, ist sein
Vorwort zu den drei anderen. Schon dieses Vorwort
enttäuscht. Es bleibt an der Oberfläche und sucht nicht
einmal nach der Tiese. Eine Novelle im Dialog; von der
großen Stunde wird nur berichtet, wir erleben sie nicht
mit. Eine Mutter stirbt in ihrer lebendigen Stunde für
ihren Sohn, weil sie fühlt, daß sie seinem schaffenden
Geist durch die Unliebsamkeiten des Alters lästig wird.
Diese große Scene enthält uns Schnitzler vor und gibt
uns statt ihrer eine dürre Schilderung wie ein Reporter.
Das ist Unfähigkeit, nichts weiter. Der zweite Ein¬
acter „Die Frau mit dem Dolche“ nimmt einen muthigen
Anlauf
und bleibt mitten auf dem Wege stecken.
Die Idee des Stückes, eine Ahnung zum inneren Erlebniß
zu gestalten, ist glänzend. Aber es bleibt bei Schnitzler
nur bei der Idee; die Mittel zur Ausgestaltung, die Idee
in die Erscheinung des dramatischen Erlebnisses treten zu
assen, fehlen ihm. Die feinen Seelenwege, die dahin
ühren, findet er nicht; er kann durch die Oberfläche
licht hindurch zu den Tiefen und hilft sich darüber hinweg
nit schönen Reden, denen er ein rhytmisches Gewand
gibt. Schade darum. — Der beste der Einacter sind
„Die letzten Masken“. Eine feine Studie, herb und ernst,
gedankenreich und voll reifer Poesie. Hier fängt man an,
wieder an Schnitzler glauben zu wollen. Der Journalist
Rademacher liegt auf dem Krankenbett, blaß und todes¬
matt. Der Jammer seins Lebens hat ihn dort hin¬
gebracht. Und war einst so jung, so kampfesfroh, hat
nur kein Glück gebracht. Das hatte ihm ein Anderer
weggeschnappt, ein jämmerlicher Strohkopf: Weihgast
heißt er und ist ein berühmter Dichter, der sich aus dem
Glück seine Kränze flicht. Der arme Schwindsuchtscandidat
sieht, daß es nicht mehr lange dauern wird mit ihm. Da
steigt der grimme Haß des Lebens noch einmal wüthend
in ihm auf, und er will seinen Feinden gründlich Bescheid
geben, ehe kein Tag mehr für ihn dazu kommt; vor allem
Weihgast, seinem glücklicheren Jugendgenossen. Der
Mann kommt, doch als er nun so behäbig dasitzt
in seiner Oede und Hohlheit, da fällt dem armen
Lehensmüden kein Wort des Vorwurfs und der Recht¬
fertigung ein. Er geht mit einem großen Lächeln
aus der Welt: „Was hat unsereiner mit den Leuten
zu schaffen, die morgen noch auf der Welt sein werden?“
„Literatur“ nennt sich der letzte Einacter und
ist ein Lustspiel. Das Stückchen ist sehr gescheidt gemacht
und hat zum Schluß ein Salzkörnchen Humor und Satire.
Aber es ist nur ein Gelegenheitsspiel, zwar nicht im
Goethe'schen Sinne, und ohne bleibneden inneren Reiz.
Eine Skizze, die nicht das erfüllt, was man hinter ihrer
Maske zu finden hofft; doch sie ist ganz amüsant und, wie
gesagt, sehr gescheidt gemacht.
-laat. Aun.u.
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