16.1. Lebendige-Stunden zyklus
box 21/2
Heft 19
Teutsche Heimat
1902
liegt in allem, was dieser italienische Messias schreibt, eine sehr betrachtliche Menge
von Unnatur, von Kunstelei, von Pose. Wenigstens empfindet unser germanisches
Gefühl seinen sublimen Asthetizismus nicht als den natürlichen Ausdruck
unmittelbarer Stimmungen. Richt einmal immer als den Ausfluß eines frank¬
haften Naturells, sondern geradezu als kokettes Dekadenteln. Möglich, daß wir
Germanen da dem Romanen einiges Unrecht zufugen: fehlt uns doch zur gerechten
Beurteilung eine sehr wichtige Bedingung, — das unmittelbare Empfinden
die so begeistert gepriesene Schonheit seiner Sprache, deren rhythmischer Wohllaut
dem für den musikalischen Reiz der Rede weit empfänglicheren Ohre des Italieners
eine Quelle höchsten Genusses ist. Immerhin bleiben aber noch genug Mangel,
die wit auch ohne dieses Sprachgefühl beurteilen können: die Gestalten von
d'Annunztos Dramen zeigen uns, wenn wir sie der uppigen Gewänder ihrer
prunkenden Veredsamkeit entkleiden, nur selten eigentliches Leben, seine Probleme
sind auf die Spitze getrieben, oft reine Gedankenprodukte, aus den Reden seiner
Gestalten weht Treibhausluft. Und doch, und doch, — ich gehe nach der Auf¬
führung eines Dramas von d'Annunzio bei aller klaren Erkenntnis seiner Schwachen
immer mit dem Gefuhl aus dem Theater: Hier spricht ein Großer, denn an irgend
einer Stelle packt er mich immer unmittelbar. In der „toten Stadt“ sind es
die Liebes=Scenen zwischen Alessandro und Bianca Maria, und die Seenen Annas¬
mit Bianca und mit Leonardo. Hier sehen wir die Seelen in unmittelbarem
Zwiegesprach, fühlen hinter dem Dialog der Worte den Dialog der Seelen, den
Macterlinck so oft fordert, und den er uns so selten giebt. Und wir fühlen in
dem Loose dieser drei — Alessandros und der beiden Frauen, die ihn lieben —
auch das Unerbittliche, den unentrinnbaren Zwang eines göttlichen Schicksals.
Dann aber kommt jenes zweite Motiv, die sündige Leidenschaft Leonardos zu
seiner Schwester Bi a Maria, und hier hort unser Mitempfinden auf, hier
stellt sich keine Ecchung ein, sondem wir fühlen uns durch den krankhaften
Trieß,
1.
antiken Vorbilde des Atridenschicksals zu haufen,
sch.
abee
liche That Leonardos, der die Schwester in der Quelle
ern?
Klagen zum Schluß finden keinen Zugang in unsere Seele.
Es ist tei ## ., daß „Die tote Stadt“ als Ganzes genau so mißglückt ist,
wie „Gioconda“ und „Ein Frühlingsmergentraum“, daß d'Annunzio die Qualitaten
des Dramalikers überhaupt abgeben, mochte ich nicht mit der gleichen Sicherheit,
wie man es gemeinhin thut, behaupten. Befreit man den Dialog von dem
uppigen Rankenwerk seiner Veredsamkeit bezw. Redseligkeit, so bewegt er sich doch
namentlich im vorletzten Akte in einer deutlichen Steigerung, die man wohl
dramatisch nennen kann. Ob aber der Dichter seinem lururierenden Schilderungs¬
und Re
1 voller
dramat: Don den Berliner Bühnen.
B#in, 27. Januar.
Kunstlichkeit der Probleme und Mangel an schlichter Naturlichkeit muß
man auch dem Einakter=Cyklus „Lebendige Stunden“ vorwerfen, der die
diesjabrigs Gabe Arthur Schnitzlers ist und dem im Deutschen Theater der
Beifall der Premièren=Besucher bis jetzt unvermindert treu geblieben zu sein
scheint. In diesen vier Einaktern kann man bei einigem guten Willen ein ein¬
beitliches Themg finden: Die Gegenüberstellung der artistischen Weltanschauung
für die alles Erleben nur Wert als Stoff für die eigene künstlerische Produktion
hat, und der Weltanschauung der Nicht=Künstler, die im Genuß und auch im
563
box 21/2
Heft 19
Teutsche Heimat
1902
liegt in allem, was dieser italienische Messias schreibt, eine sehr betrachtliche Menge
von Unnatur, von Kunstelei, von Pose. Wenigstens empfindet unser germanisches
Gefühl seinen sublimen Asthetizismus nicht als den natürlichen Ausdruck
unmittelbarer Stimmungen. Richt einmal immer als den Ausfluß eines frank¬
haften Naturells, sondern geradezu als kokettes Dekadenteln. Möglich, daß wir
Germanen da dem Romanen einiges Unrecht zufugen: fehlt uns doch zur gerechten
Beurteilung eine sehr wichtige Bedingung, — das unmittelbare Empfinden
die so begeistert gepriesene Schonheit seiner Sprache, deren rhythmischer Wohllaut
dem für den musikalischen Reiz der Rede weit empfänglicheren Ohre des Italieners
eine Quelle höchsten Genusses ist. Immerhin bleiben aber noch genug Mangel,
die wit auch ohne dieses Sprachgefühl beurteilen können: die Gestalten von
d'Annunztos Dramen zeigen uns, wenn wir sie der uppigen Gewänder ihrer
prunkenden Veredsamkeit entkleiden, nur selten eigentliches Leben, seine Probleme
sind auf die Spitze getrieben, oft reine Gedankenprodukte, aus den Reden seiner
Gestalten weht Treibhausluft. Und doch, und doch, — ich gehe nach der Auf¬
führung eines Dramas von d'Annunzio bei aller klaren Erkenntnis seiner Schwachen
immer mit dem Gefuhl aus dem Theater: Hier spricht ein Großer, denn an irgend
einer Stelle packt er mich immer unmittelbar. In der „toten Stadt“ sind es
die Liebes=Scenen zwischen Alessandro und Bianca Maria, und die Seenen Annas¬
mit Bianca und mit Leonardo. Hier sehen wir die Seelen in unmittelbarem
Zwiegesprach, fühlen hinter dem Dialog der Worte den Dialog der Seelen, den
Macterlinck so oft fordert, und den er uns so selten giebt. Und wir fühlen in
dem Loose dieser drei — Alessandros und der beiden Frauen, die ihn lieben —
auch das Unerbittliche, den unentrinnbaren Zwang eines göttlichen Schicksals.
Dann aber kommt jenes zweite Motiv, die sündige Leidenschaft Leonardos zu
seiner Schwester Bi a Maria, und hier hort unser Mitempfinden auf, hier
stellt sich keine Ecchung ein, sondem wir fühlen uns durch den krankhaften
Trieß,
1.
antiken Vorbilde des Atridenschicksals zu haufen,
sch.
abee
liche That Leonardos, der die Schwester in der Quelle
ern?
Klagen zum Schluß finden keinen Zugang in unsere Seele.
Es ist tei ## ., daß „Die tote Stadt“ als Ganzes genau so mißglückt ist,
wie „Gioconda“ und „Ein Frühlingsmergentraum“, daß d'Annunzio die Qualitaten
des Dramalikers überhaupt abgeben, mochte ich nicht mit der gleichen Sicherheit,
wie man es gemeinhin thut, behaupten. Befreit man den Dialog von dem
uppigen Rankenwerk seiner Veredsamkeit bezw. Redseligkeit, so bewegt er sich doch
namentlich im vorletzten Akte in einer deutlichen Steigerung, die man wohl
dramatisch nennen kann. Ob aber der Dichter seinem lururierenden Schilderungs¬
und Re
1 voller
dramat: Don den Berliner Bühnen.
B#in, 27. Januar.
Kunstlichkeit der Probleme und Mangel an schlichter Naturlichkeit muß
man auch dem Einakter=Cyklus „Lebendige Stunden“ vorwerfen, der die
diesjabrigs Gabe Arthur Schnitzlers ist und dem im Deutschen Theater der
Beifall der Premièren=Besucher bis jetzt unvermindert treu geblieben zu sein
scheint. In diesen vier Einaktern kann man bei einigem guten Willen ein ein¬
beitliches Themg finden: Die Gegenüberstellung der artistischen Weltanschauung
für die alles Erleben nur Wert als Stoff für die eigene künstlerische Produktion
hat, und der Weltanschauung der Nicht=Künstler, die im Genuß und auch im
563