16.1. Lebendige Stunden Zuklus box 21/2
Heft 19
Deutsche Heimat
1902
Schmerz der Stunde leben. Aber dieses Thema wird nicht in allen vier Stücken
gleichmäßig durchgeführt. Am klarsten tritt es im ersten hervor, das den Titel
„Lebendige Stunden“ führt, aber hier ist es wiederum zu klar prazisiert, so
daß die beiden Personen, die als Vertreter der beiden Anschauungen hingestellt
sind, kein individuell differenziertes Leben zeigen. Im zweiten „Die Frau mit
dem Dolche“ wird das Thema nur am Anfang und am Schluß angeschlagen,
und der Hauptnachdruck auf ein ganz anderes Thema gelegt, das man kurz als
den Parallelismus der Schicksale bezeichnen kann. Was aber dichterisch wertvoll
an diesem Stoff ist, der Nachweis, wie ein Mensch zu dem Glauben kommen
kann, ein schon vor Jahrhunderten dagewesenes Schicksal noch einmal zu erleben,
—
= sowie die Heldin des Einakters glaubt, in ihrem Schicksale wiederhole sich das
von ihr visionär geschaute Schicksal „Der Frau mit dem Dolche“ auf dem
Renaissance=Bilde in der Gemalde=Galerie, dieser Nachweis kann in der
dramatischen Behandlung, zumal im Rahmen eines Einakters, nicht erbracht werden,
und so kann dem Eindruck auch das Fremdartige nicht genommen werden. Im
dritten Stuck, betitelt „Die letzten Masken“ tritt das Motiv des ersten nur
noch für einen Augenblick zum Schluß hervor, denn die beiden Manner, die sich
da gegenübertreten, der sterbende Dichter und der lebende Epikuraer, kann man
als Vertreter jener zwei Weltanschanungen auffassen. Auch klingt es episodenhaft
in dem Dialog zwischen dem sterbenden Dichter und dem Schauspieler an, der
im Krankenhaus fortfährt, das Leben als Stoff für seine Rollengestaltung zu
betrachten. Das eigentliche Thema ist die Erkenntnis der Richtigkeit der
meisten Lebensgenüsse, Lebenswünsche und Lebenshoffnungen, die dem Todgeweihten
im Angesicht des sicheren nahen Todes aufgeht. Das ist ein ernstes und schones
Motiv, und es wirkt ganz ungezwungen, rein menschlich. Mit diesem Manne,
der da ein ganzes Leben danach gelechzt hat, seinem Freund die Maske vom
Gesicht zu reißen und ihm auch selbst ohne Maske gegenüberzutreten, und der
dann, als endlich sich diese Stunde ihm naht, im Angesicht des nahen Todes auf
diese Genngthnung freiwillig verzichtet, weil er mit einemmale den geringen Wert
dieses ganzen armseligen Lebens einsieht und mit der Erkenntnis von der Arm¬
seligkeit seines Feindes auch aller Groll verflogen ist, — mit diesem Manne
konnen wir fühlen. Von den vier Einaktern wirkt dieser am reinsten und tiefsten.
Das letzte Stück der Reihe, Litteratur, ist ein lustiger Schwank voll
geistreicher Bosheit, mit der die koketten Bekenntnis=Dichter verspottet werden,
die mit ihren intimsten Erlebnissen in photograpbischer Treue ihre Bücher füllen,
und deren Schamlosigkeit gegenüber selbst die bornierte Asthetik eines Sport¬
Barons im Rechte bleibt, die freilich gleichzeitig hochsterheiternd verulkt wird.
G. Z.
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Heft 19
Deutsche Heimat
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Schmerz der Stunde leben. Aber dieses Thema wird nicht in allen vier Stücken
gleichmäßig durchgeführt. Am klarsten tritt es im ersten hervor, das den Titel
„Lebendige Stunden“ führt, aber hier ist es wiederum zu klar prazisiert, so
daß die beiden Personen, die als Vertreter der beiden Anschauungen hingestellt
sind, kein individuell differenziertes Leben zeigen. Im zweiten „Die Frau mit
dem Dolche“ wird das Thema nur am Anfang und am Schluß angeschlagen,
und der Hauptnachdruck auf ein ganz anderes Thema gelegt, das man kurz als
den Parallelismus der Schicksale bezeichnen kann. Was aber dichterisch wertvoll
an diesem Stoff ist, der Nachweis, wie ein Mensch zu dem Glauben kommen
kann, ein schon vor Jahrhunderten dagewesenes Schicksal noch einmal zu erleben,
—
= sowie die Heldin des Einakters glaubt, in ihrem Schicksale wiederhole sich das
von ihr visionär geschaute Schicksal „Der Frau mit dem Dolche“ auf dem
Renaissance=Bilde in der Gemalde=Galerie, dieser Nachweis kann in der
dramatischen Behandlung, zumal im Rahmen eines Einakters, nicht erbracht werden,
und so kann dem Eindruck auch das Fremdartige nicht genommen werden. Im
dritten Stuck, betitelt „Die letzten Masken“ tritt das Motiv des ersten nur
noch für einen Augenblick zum Schluß hervor, denn die beiden Manner, die sich
da gegenübertreten, der sterbende Dichter und der lebende Epikuraer, kann man
als Vertreter jener zwei Weltanschanungen auffassen. Auch klingt es episodenhaft
in dem Dialog zwischen dem sterbenden Dichter und dem Schauspieler an, der
im Krankenhaus fortfährt, das Leben als Stoff für seine Rollengestaltung zu
betrachten. Das eigentliche Thema ist die Erkenntnis der Richtigkeit der
meisten Lebensgenüsse, Lebenswünsche und Lebenshoffnungen, die dem Todgeweihten
im Angesicht des sicheren nahen Todes aufgeht. Das ist ein ernstes und schones
Motiv, und es wirkt ganz ungezwungen, rein menschlich. Mit diesem Manne,
der da ein ganzes Leben danach gelechzt hat, seinem Freund die Maske vom
Gesicht zu reißen und ihm auch selbst ohne Maske gegenüberzutreten, und der
dann, als endlich sich diese Stunde ihm naht, im Angesicht des nahen Todes auf
diese Genngthnung freiwillig verzichtet, weil er mit einemmale den geringen Wert
dieses ganzen armseligen Lebens einsieht und mit der Erkenntnis von der Arm¬
seligkeit seines Feindes auch aller Groll verflogen ist, — mit diesem Manne
konnen wir fühlen. Von den vier Einaktern wirkt dieser am reinsten und tiefsten.
Das letzte Stück der Reihe, Litteratur, ist ein lustiger Schwank voll
geistreicher Bosheit, mit der die koketten Bekenntnis=Dichter verspottet werden,
die mit ihren intimsten Erlebnissen in photograpbischer Treue ihre Bücher füllen,
und deren Schamlosigkeit gegenüber selbst die bornierte Asthetik eines Sport¬
Barons im Rechte bleibt, die freilich gleichzeitig hochsterheiternd verulkt wird.
G. Z.
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