II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 193

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16.1. Lebendige Stunden zyklus
sache sein, erst solle die mittelasiatische (früher trans¬
kaspische) Bahn mit der neuen Taschkent=Linie in un¬
mittelbarster Verbindung stehen und dann nach Her¬
Za¬
stellung der gleichfalls von russischer Seite in Persien zu
bauenden Strecke Dschulka=Tabris=Teheran=Mesched¬
auch Berlin den Ehrgeiz gehabt, es zu einer Litteratur
Arthur Schnitzlers „Lebendige
von eigenem Gepräge zu bringen. In jenen Tagen,
Stunden“.
als Fontane heranreifte, Glaßbrenner witzelte und
Kalisch Possen schmiedete. Aber das damalige Klein¬
Erstaufführung im Deutschen Theater.
Von
Berlin ist mit der heutigen Weltstadt geistig nur durch
Heinrich Hart.
einen schmalen Steg verknüpft. Die da heute für
Berliner Brettl und Ueberbrettl dichten, sind fast
Is muß ein Genuß für wahrhaft edle Frauen sein,
sämtlich eingewandert, ihr Herz ist noch nicht berlinisch,
W Arthur Schnitzler leibhaftig vor sich zu sehen.
es gehört noch der Kindheitsheimat an, und so schaffen
Das ist doch endlich einmal ein Dichter, der wie ein
sie ostpreußisch, schlesisch, westfälisch, mecklenburgisch, nur
Dichter ausschaut. Wie ihn das Mädchenherz erträumt,
nicht berlinisch. Berlin ist von gestern, Wien hat alte
ehe die erste Gesellschaftssaison bittere Enttäuschungen
Kultur. Und mit ihr seine eigene Kunst, seine eigene
bringt. Ein Dichter, zart, weich und mild vom Scheitel bis
Dichtung, seinen eigenen Stil. Eine Kette gemein¬
zur Zehe; mild das dunkle Haar, mild die ideale Weihe¬
sthaftlicher Eigentümlichkeiten zieht sich von Denis
locke, die sich weich über die milde Stirn legt, mild
und Blumauer bis zu Grillparzer, von Grillparzer
der verklärte Blick des Auges, mild der Mund und
bis zu Hofmannsthal und Schnitzler. Vor allem ist
mild das Kinn. Und mit dieser Leiblichkeit steht die
da die Lust an feiner Sinnlichkeit, an weichen zer¬
Innerlichkeit, steht das Wollen, Können und Schaffen
fließenden Formen, ein Zug ins Weibliche, Schwelgende,
des Dichters in liebevollem Einklang. Wienerisch
Träumerische, leichtes Blut und zart Generv, viel
weich und wienerisch mild in jedem Zuge. Eine echte
Rezeptivität und wenig Aktivität. Das Gemütliche
Kunst ohne Frage, aber so eng in ihren Grenzen, so
tritt stärker hervor als das Geistige, das Intime, Feine,
menschlich eng, so arm an Blut und Mark, und
Stille mehr als das Heroische und Große, das Treib¬
statt dessen mit Theaterei und Litteratei überfüllt.
hausartige mehr als das Wildgewachsene. Und wenn
Pose ist alles. Das ist die Lösung dieser Kunst.
in den niederen Gründen der Litteratur sich leicht etwas
Jedes Werk ist vor dem Spiegel geschrieben. Wie
Trottelhaftes einmischt, so in den höheren oft ein ge¬
wird es auf Hofrats Fanny wirken? Was werden
wisser Snobismus, eine müde Blasiertheit, die mit ihrer
die „Anderen“ im Kaffeehaus dazu sagen? So sinnend
kränklichen Weise selbstgefällig kokettiert. Arthur
setzt der Dichter sein finis unters Werk. Und die
Schnitzler ist unter all den weiblich Zarten keineswegs
Wiener Litteratur ist um ein neues typisches Erzeugnis
der Zarteste. Er hat hier und da Anwandlungen von
bereichert.
Frische und Saftigkeit. Aber auch er würde zum
Wappentier doch am besten die Molluske wählen.
Es giebt eine Wiener Litteratur. Ebenso sicher, wie
es eine Berliner nicht giebt. Vor Zeiten hat freilich
Orenburg=Taschkent für die russisch=af
deutet. Im Verein mit der obengen
Bahn wird der erwähnte Schienenwe
von Tiflis und von der Wolga her
noch 54 Bataillone, 84 Schwadron
Schnitzler hat zwei Domänen, di
kultiviert. Liebelei und Sterbelei.
spielen mit der Liebe oder mit dem
wann auch mit beiden zugleich.
sie liebeln. Stets aber spielen sie
Sie kokettieren mit der Liebe, und n
philosophieren, kokettieren sie ebenst
von dem, was Angelus Silesius in
Mensch werde wesentlich ... lebt in
Dichters Brust. Statt Wesenhaftigt
Leben Litteratur.
Liebelei spielt in dem Einakter=Quart
ich weiß nicht, ob aus Selbstironic
verblendung — mit dem Gesam
Stunden“ begnadet hat, keine sonder
aber Sterbelei. Und natürlich
den vier Drämchen führt speziell den
Stunden“; spottet seiner selbst und #
Charlotte Stieglitz hat sich derein
Herz gestoßen, um ihren Mann aus
zum Schaffen aufzurütteln. Schnitz
einer Wiener Hofrätin, die in ähn
Sohn Heinrich zu einem Goethe
Flamme des Genius in ihm anzu
nimmt eine überreichliche Portion
stirbt in der seligen Gewißheit, der
werde den Sohn zu einem Fau
inspirieren. Und in der That, der
spricht, das mütterliche Opfer „vol
rechtfertigen. Ob das liebe Kind
halten wird, wer weiß es. Wir er
ihm noch von der Mutter irgend et