II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 194

InC
Zyklus
16.1. Lebendige
sache sein, erst solle die mittelasiatische (früher trans¬
kaspische) Bahn mit der neuen Taschkent=Linie in un¬
mittelbarster Verbindung stehen und dann nach Her¬
Za—
stellung der gleichfalls von russischer Seite in Persien zu
bauenden Strecke Dschulka=Tabris=Teheran=Mesched¬
auch Berlin den Ehrgeiz gehabt, es zu einer Litteratur
e Schnitzlers „Tebendige
von eigenem Gepräge zu bringen. In jenen Tagen,
Stunden“
als Fontane heranreifte, Glaßbrenner witzelte und
Kalisch Possen schmiedete. Aber das damalige Klein¬
fführung im Deutschen Theater.
Berlin ist mit der heutigen Weltstadt geistig nur durch
Von
einen schmalen Steg verknüpft. Die da heute für
Heinrich Hart.
Berliner Brettl und Ueberbrettl dichten, sind fast
in Genuß für wahrhaft ed! Frauen sein,
sämtlich eingewandert, ihr Herz ist noch nicht berlinisch,
Schnitzler leibhaftig vor sich zu sehen.
es gehört noch der Kindheitsheimat an, und so schaffen
endlich einmal ein Dichter, der wie ein
sie ostpreußisch, schlesisch, westfälisch, mecklenburgisch, nur
haut. Wie ihn das Mädchenherz erträumt,
nicht berlinisch. Berlin ist von gestern, Wien hat alte
Gesellschaftssaison bittere Enttäuschungen
Kultur. Und mit ihr seine eigene Kunst, seine eigene
dichter, zart, weich und mild vom Scheitel bis
Dichtung, seinen eigenen Stil. Eine Kette gemein¬
ld das dunkle Haar, mild die ideale Weihe¬
schaftlicher Eigentümlichkeiten zieht sich von Denis
ch weich über die milde Stirn legt, mild
und Blumauer bis zu Grillparzer, von Grillparzer
Blick des Auges, mild der Mund und
bis zu Hofmannsthal und Schnitzler. Vor allem ist
nn. Und mit dieser Leiblichkeit stei die
da die Lust an feiner Sinnlichkeit, an weichen zer¬
steht das Wollen, Können und Schaffen
fließenden Formen, ein Zug ins Weibliche, Schwelgende,
in liebevollem Einklang. Wienerisch
Träumerische, leichtes Blut und zart Generv, viel
hienerisch mild in jedem Zuge. Eine echte
Rezeptivität und wenig Aktivität. Das Gemütliche
Frage, aber so eng in ihren Grenzen, so
tritt stärker hervor als das Geistige, das Intime, Feine,
ng, so arm an Blut und Mark, und
Stille mehr als das Heroische und Große, das Treib¬
t Theaterei und Litteratei überfüllt.
hausartige mehr als das Wildgewachsene. Und wenn
Das ist die Lösung dieser Kunst.
in den niederen Gründen der Litteratur sich leicht etwas
ist vor dem Spiegel geschrieben. Wie
Trottelhaftes einmischt, so in den höheren oft ein ge¬
Hofrats Fanny wirken? Was werden
wisser Snobismus, eine müde Blasiertheit, die mit ihrer
im Kaffeehaus dazu sagen? So sinnend
kränklichen Weise selbstgefällig kokettiert. Arthur
lichter sein finis unters Werk. Und die
Schnitzler ist unter all den weiblich Zarten keineswegs
kratur ist um ein neues typisches Erzeugnis
der Zarteste. Er hat hier und da Anwandlungen von
Frische und Saftigkeit. Aber auch er würde zum
Wappentier doch am besten die Molluske wählen.
eine Wiener Litteratur. Ebenso sicher, wie
liner nicht giebt. Vor Zeiten hat freilich
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Orenburg=Taschkent für die russisch=asiatische Politik be¬
deutet. Im Verein mit der obengenannten persischen
Bahn wird der erwähnte Schienenweg nach Taschkent,
von Tiflis und von der Wolga her in kürzester Frist
noch 54 Bataillone, 84 Schwadronen und 23 Feld¬
Schnitzler hat zwei Domänen, die er am eifrigsten
kultiviert. Liebelei und Sterbelei. Seine Personen
spielen mit der Liebe oder mit dem Tode, dann und
wann auch mit beiden zugleich. Sie sterbeln, wenn
sie liebeln. Stets aber spielen sie mit den Dingen.
Sie kokettieren mit der Liebe, und wenn sie vom Tode
philosophieren, kokettieren sie ebenso. Keine Ahnung
von dem, was Angelus Silesius in die Worte faßt:
Mensch werde wesentlich ... lebt in ihrer und in ihres
Dichters Brust. Statt Wesenhaftigkeit Rederei, statt
Leben Litteratur.
Liebelei spielt in dem Einakter=Quartett, das Schnitzler
ich weiß nicht, ob aus Selbstironie oder aus Selbst¬
verblendung — mit dem Gesamttitel „Lebendige
Stunden“ begnadet hat, keine sonderliche Rolle. Wohl
aber Sterbelei. Und natürlich — das „toteste“ von
den vier Drämchen führt speziell den Titel „Lebendige
Stunden“; spottet seiner selbst und weiß nicht wie.
Charlotte Stieglitz hat sich dereinst den Dolch ins
Herz gestoßen, um ihren Mann aus seiner Lethargie
zum Schaffen aufzurütteln. Schnitzler berichtet von
einer Wiener Hofrätin, die in ähnlicher Weise ihren
Sohn Heinrich zu einem Goethe aufzupuffen, die
Flamme des Genius in ihm anzufachen sucht. Sie
nimmt eine überreichliche Portion Morphium und
stirbt in der seligen Gewißheit, der Tod der Mutter
werde den Sohn zu einem Faust oder Hamlet
inspirieren. Und in der That, der edle Heinrich ver¬
spricht, das mütterliche Opfer „voll und ganz“ zu
rechtfertigen. Ob das liebe Kind die Verheißung
halten wird, wer weiß es. Wir erfahren weder von
ihm noch von der Mutter irgend etwas, was uns die