II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 217

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16.1. Lebendige Stunden zyklus
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Theater=Korrespondenz.
in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack
regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein einziges Beispiel
aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit
ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit und bürgerlicher
Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten und Politur des Betragens
mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre." Er belegt dann
des Weiteren seine Ansicht durch die entscheidenden Beispiele aus der Kunst¬
und Kulturgeschichte aller Zeiten und Völker.
Was nun im Besonderen die Frage betrifft, ob „durch den politischen
und kulturellen Aufschwung“ unserer Nation auch unsere deutsche dramatische
Dichtung in gleichem Maße gewonnen hat, so möchte ich darauf durch
folgende Tabelle eine Antwort zu geben versuchen:
1800—1810: Shakespere wird durch Schlegels Vermittelung
der Heros der deutschen dramatischen Literatur:
1810—1820: Kleist, Grillpurzer;
1820—1830: Grillparzer, Grabbe:
1830—1840: Grillparzer, Grabbe:
1840—1850: Hebbel, Gutzkow;
1850—1860: Hebbel, Ludwig, Gutzkow, Richard Wagner:
1860—1870: Hebbel, Richard Wagner:
1870—1880: Richard Anzengruber, Wildenbruch, Paul Lindau;
1880—1890: Lindau, Blumenthal;
1890—1900: Hauptmann, Sudermann, Blumenthal, Schnitzler,
Dreyer, Hartleben, Otto Ernst.
Der Leser wird die Tabelle richtig verstehen: Goethe und Schillr
sind mit Absicht — als dem innersten Wesen und den Wurzeln nach zum
vorhergehenden Jahrhundert gehörig — nicht genannt. Die einzelnen
Dichter sind dem Jahrzehnt zugetheilt, in dem sie mit den maßgebendsten
Werken an die Oeffentlichkeit getreten sind. Die Tabelle zeigt: Das Jahr
zehnt nach dem großen Kriege ist geradezu das große dramatische Trauer¬
jahr des ganzen Jahrhunderts. Der Oesterreicher Anzengruber kann doch
wirklich nicht aus dem politischen und wirthschaftlichen Aufschwung ab¬
geleitet werden. Richard Wagners Glanz strahlt mit unerhörter Hellig¬
keit, die Wurzeln seiner Kunst aber reichen Jahrzehnte zurück; er kann
also auch nicht dem politischen Aufschwung aufs Konto gesetzt werden.
Immerhin mögen allerdings das jetzige Bayrenth und der wirthschaftliche
Aufschwung nicht ganz ohne Zusammenhang dastehen. Wildenbruch ist der
einzige, den man in seinen dramatischen Stoffen mit dem neu begründeten
Reich in Beziehung setzen könnte. Er wird aber bald durch die auf¬
gehenden Sterne Lindau und Blumenthal in den Schatten gestellt. Das
letzte Jahrzehnt bringt dann mit Sudermann und Hauptmann in der
That eine neue Kunstrichtung. Hauptmanns Wirkung aber reicht — mit
Ausnahme der eigentlich eine Entgleisung bedeutenden „Versunkenen
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