II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 218

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16. 1. Lebendige Stunden zykIus
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Theater=Korrespondenz.
Glocke“ — nicht über den Kreis einer literarischen Gelehrtenschule.
Sudermann wird gerade von dieser selben Schule überhaupt nicht als
Dichter anerkannt, sondern wiederholt und mit Nachdruck als bloßer
Theaterspekulant gebrandmarkt. Sein Hauptwerk, die „Drei Reiherfedern“
wird allenthalben rundweg abgelehnt. Wenn man nun aber, wie ich es
#thun möchte und immer gethan habe, sowohl Hauptmann wie Sudermann
in bedingter Weise anzuerkennen bereit ist, — was bedeuten sie gegen die
Dramatiker der Reaktionszeit, Hebbel und Otto Ludwig? Und was be¬
deuten sie gegen Kleist, den Dichter aus der Zeit der tiefsten politischen
Erniedrigung? Wollte man nun gar den Kultur= und Geisteszustand des
deutschen Volkes nicht allein in Hinsicht auf die dramatische Literatur,
sondern im Hinblick auf geistige Produktion jeder Art bemessen, so ist gerade
in den Jahrzehnten der „finsteren Reaktion“ über Deutschland ein Strom
des Geistes von unerhörter Fülle gegangen: Musiker, Dichter, Historiker,
Philosophen ersten Ranges und sogar solche, die in ihrer Einzigartigkeit
außerhalb jedes Ranges stehen. Und dabei ist weder die konservative noch
die demokratische Richtung zu kurz gekommen. Hat nicht Ranke in den
dreißiger und vierziger Jahren seine klassischen Werke geschrieben? Und
hat nicht auch Mommsen schon in den fünfziger Jahren seine Römische
Geschichte begonnen? Friedrich Julius Stahl und Marx, Vilmar und
Gervinus, Humboldt, Strauß, Vischer, Storm, Fontaue, Gottfried Keller,
Heyse, Riehl, Burckhardt, Raabe, Scheffel, Renter — was haben sie alle
in dieser bunten Reihe etwa dem politischen und kulturellen Aufschwung zu
danken? Nein — es kann wirklich keine Rede davon sein, daß das
deutsche Geistesleben im Allgemeinen und die deutsche dramatische Literatur
im Besonderen durch die politischen Erfolge und Geschehnisse der letzten
Jahrzehnte befruchtet sind oder daß es gar ein Gesetz ist, daß Politik,
Wirthschaft und Geisteskultur sich parallel entwickeln.
Etwas ganz Anderes allerdings ist der Fall. Wohl hat der im Ge¬
folge des politischen Aufschwungs sich vollziehende wirthschaftliche auch nach
der Seite der dramatischen Produktion hin einen Einfluß stark geltend
gemacht. Dieser Einfluß bezieht sich aber nicht auf die dramatische Kunst,
sondern auf die theatralische Industrie. Der allgemeinen industriellen
Entwicklung ist auch das Theater verfallen. Das zeigt sich ganz deutlich
besonders auch im Berliner Theaterleben. Deutsches Theater, Berliner
Theater, Lessing=Theater, Residenz=Theater — sie alle sind in der neuen
Reichshauptstadt nicht entstanden, weil eine unerhörte Blüthenfülle drama¬
tischer Kunst ihrer bedurfte, sondern weil mit dem wirthschaftlichen Auf¬
schwung ein zahlungsfähiges Publikum sich auf mannigfaltigste Weise an
„Kunst“ zu amüsiren wünschte. Das zahlungsfähige Publikum war
das Primäre, der theatralische „Musentempel“ das Sekundäre und dann
erst kam als Tertiäres der dramatische Dichter in Betracht. Andererseits
aber auch: Weil mit einem zahlungsfähigen und „gebildeten“ Publikum
ein Geschäft zu machen war, gründeten Geschäftsleute Theater und schrieben