II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 240

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16.1. Lebendige stunden zyklus
Und auch die Kunst zu leben, die glücklicherweise zwar nicht von einem besonderen
Talent abhängig, in unserer verschobenen und so durch und durch unwahrhaftigen Kultur
aber äußerst schwer zu üben ist, kennt solche Stunden des Lebens über dem Leben.
Hellsehende sind wir dann, elysig., Genießende oder von Dämonen Besessene — aber
immer sind sie bedeutsam, außerordentlich, diese Stunden, und wir fühlen in ihnen, daß
wir einmal mit unseren menschlichen Organen an das Ewige reichen und mit ihm
uns berühren. So etwa dürfte man den Gesamttitel erläutern, den Arthur Schnitzler
über seine vier im Deutschen Theater zur Aufführung gebrachten Einakter setzt:
„Lebendige Stunden“. Stunden, in denen wir fühlen, daß wir selbst unser Schicksal
sind: die gezwungen=freiwilligen Gestalter unseres Erlebens. Der Anlauf Schnitzlers,
selbst diese kleinen Gebilde, an denen er mit liebevoller Sorgsamkeit und sein
stimmender Krinst gearbeitet hat. unter eine Idee zu stellen, die ihnen nicht wie ein
Stempel aufgedrückt, oder wie ein Etiquette angeklebt wird, die sie vielmehr hervor¬
getrieben hat, wie alles eigentlich Schöne in der Kunst, das nach Hebbels Wort „inneres
Leben ans Licht getreten“ ist, muß erfreuen; und besser, tausendmal besser thut er, diese
feine und aufrichtige Kunst seinem Können gemäß auf bescheidene Einakter zu beschränken,
seinem Talent die Zeit zu gönnen, bis auch ihm die „lebendige Stunde“ zu einer größeren
That schlägt, statt wie Hauptmann entweder ein zusammengetragenes buntes Märchen¬
gewirre mit allenthalben entliehenen, halb empfundenen Weltanschauungsfragmenten zu
galvanisieren, oder aber ein Stück Natur wie einen Eierkuchenteich in die Breite und
die Länge zu dehnen. Möglich aber ist auch, daß diese lebendige Stunde ihm ausbleibt
und daß es dabei sein Bewenden hat, wenn er uns von Zeit zu Zeit geschmackvoll
unterhält und die grellen Dissonanzen des wirklich gelebten Lebens zu feingestimmten
kleinen Walzern, Scherzos und Nokturnos künstlerisch umkomponiert. Sein Wiener Stück
„Liebelei“, obschon es gewiß nichts Neues der Idee nach brachte, nachdem das „Alles
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