II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 239

box 21/2
16. 1. Lebendige Stunden— Zyklus
240
Herr Clemens glaubt, daß seine Grete „nichts von Alledem erlebt hat",
was in ihren Gedichten steht, „daß es nur Phantasien sind.“ Herr Clemens
wird sie sogar heirathen, wenn sie sich verpflichtet, der Poesie zu entsagen ...
Der derb zupackende Centaur der Freudenau, der sich nur betrügen läßt, wenn
er betrogen sein will, das mit allen Salben geschmierte Literaturweibchen,
das sich, je nach der Marktlage, auf Papier oder Laken prostituirt, und der
gedunsene bohémien, der, nach Jackwerths Rezept, seine Neider „innerlich
ohrfeigt“: alle drei Gestalten sind so flott, mit so sicherer Psychologenkunst ge¬
zeichnet und ihre Reden blitzen so von organisch erwachsenem Witz, daß man an
Courtelines kleines Meisterwerk Boubouroche denken muß, dem Herr Schnitzler
wohl die Anregung zu seinem Satyrspiel dankt. Der Absicht des Dichters,
die beiden Welten des Willens und der Vorstellung in wechselndem Licht
zu zeigen, ordnet das Stückchen sich wirksam ein und beleuchtet ein letztes
Mal, mit dem grellsten Strahl, das unfügliche, unnützliche Treiben einer Gauk¬
lergattung, deren feinste, anständigste Exemplare von Ibsens Borkman und
Ibsens Irene im Ton tiefster Verachtung Dichter genannt worden sind.
Nietzsche war von der souveraineté des lettres nicht so felsenfest
wie Zola, sein „Unmöglicher“, überzeugt. Den geliebten Griechen sagte er
nach: „Sie wußten, daß einzig durch die Kunst das Elend zum Genuß werden
könne. Zur Strafe für diese Einsicht waren sie aber von der Lust, zu fabuliren,
so geplagt, daß es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug und
Trug freizuhalten; wie alles Poetenvolk solche Lust an der Lüge hat und
obendrein noch die Unschuld dabei“. Und er entschuldigt den Künstler, der „nicht
in den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Vermännlichung
der Menschheit steht“; die Kunst habe neben anderen auch die Aufgabe, „erloschene,
verblichene Vorstellungen ein Wenig wieder aufzufärben. Zwarist es nur ein Schein¬
leben, wie über Gräbern, das hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter
Toten im Traum; aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte Empfin¬
dung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst vergessenent.“
Beide Seiten der besonderen, frischer Luft verriegelten Welt, in die Herr
Schnitzler uns einführen wollte, sind in diesen Sätzen bezeichnet ... Wer
von den Dreien „Recht hat“? Jeder, wenn man ihn recht versteht: Nietzsche,
Zola und Cassagnac. Der wiener Dichter, der Einzige aus der Naturalisten¬
plejade, der sich zur Künstlerreife entwickelt hat, zeigte, als feiner Gestalter, in
vier kleinen Bildern uns eben ja selbst, daß ein Mann, der nicht sicht, auf der
Agora nicht den Willen zur Macht stählt, daß ein Stubenhocker, der nichts vor
sich hat als sein Schreibzeug, dennoch auf eigenem Grund ein Schöpfer sein kann.
M. H.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Verlag der Zukunft in Berlid,
6
Druck von Albert Damcke in Berlin=Schöneberg.