II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 242

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16.1. Lebendige Stunden Zyklus
Inune
.
Wlen
Von den Berliner Theatern 1901/1902.
VII.
In den Wochen vor Weihnachten versuchen es die Theaterleiter gern einmal auch mit einem
#3 Märchen für die großen Kinder. Aus diesem Grunde mag diesmal das Schillertheater
—Georg Reickes Märchenbrama „Die schöne Melusine“ am 12. Dez. in den Spiel¬
plan aufgenommen haben, aber das Resultat war trotz stimmungsvoller Inscenierung und einiger
guter schauspielerischer Leistungen eine arge Enttäuschung. Der Dichter hat heinend eine
philosophische Dertiefung des oft behandelten alten Dolksbuchstoffes im Sinne, abt, eine Art
faustischen Problems herausarbeiten wollen, aber seine Ideen erscheinen sehr verworten, die
Derse klingen teils zu stark an bekannte „Faust“=Stellen an, teils sind sie ungelenk und manchmal
trivial. Melusine soll für den Ritter Raimund die Verkörperung seiner Sehnsucht nach Lebens¬
fülle und Sinnengenuß, eine Art Rautendelein oder Undine sein, die in demselben Augenblick in
ihr geheimnisvolles Reich entschwindet, wo der Geliebte sie ihren Warnungen zum Trotz in ihrer
wahren Gestalt erblickt. Reicke hat es vor allem nicht verstanden, uns das lediglich triebhafte
Sinnenglück und allmähliche unbezwingliche Wiederaufsteigen des Erkenntnisdranges mit seinem
Ritter miterleben zu lassen.
Eine furchtbar hausbackene altväterische Familienkost servierte am Weihnachtstage das
Lessingtheater mit Adolf &'Arronges neuestem Opus „Die Wohlthäter“. Kein Ver¬
nünftiger wird von dem Autor von „Dr. Klaus“ und „Hasemanns Töchter“ auf seine alten Tage
noch neue Offenbarungen erwarten, aber ein derartiger Kultus des genre ennupeux ist von
keinem Standpunkt aus zu rechtfertigen. Das Stück bedeutet einen Rückschritt hinter Ifflands
und Kotzehnes Famlliengemälde, von denen die Mehrzahl weit kurzweiliger und bühnentechnisch nicht
ungeschickter ist als diese Komödie von den falschen Wohlthätern, dem in unglaublichem Standes¬
dünkel befangenen nörgelnden Kanzleirat und dem biderben reichgewordenen ehemaligen Budiker,
die ihrem Schwager resp. Schwiegersohn mit ihrer Unterstützung und ihrem undelikaten Dorwurf
derselben lästig fallen, bis der ganz rabiat gewordene junge Mann sein Weibchen und sein Amt
im Stich läßt, sich ganz auf eigene Füße stellt und seinen wahren Wohlthäter in einem rheinischen
Kohlenbaron, in dessen Dienste er tritt, entdeckt. Einige nicht ganz des Humors entbehrende
Scenen wurden durch resolute frische Darstellung (Willy Peters, Adolf Klein, Meta Jäger) zu
heiterer Wirkung gebracht.
Ganz traurig verlief der dritte und vermutlich letzte sogen. „Litterarische Abend“ des
Residenz=Theaters, der zwei Einakter: „Hindernisse“ von Siddv Pal und „Die Ver¬
gangenheit“ von R. v. der Gruben, und den Zweiakter „Das tägliche Leben“ von
Rainer Maria Rilke brachte. Das erste Stück könnte man gelten lassen, wenn ein strebsamer
Drimaner vor einem Parterre von Onkeln und Canten auf der Liebhaberbühne damit als Autor
debütiert hätte; Nr. 2 zeugt von fleißiger Sudermann=Lektüre und Uebung im reinsten Garten¬
lauben=Deutsch von Anno 1880. Heute sollte man uns einen Dorgang nicht mehr als einen
unseres Interesses werten tragischen Konflikt aufreden wollen, daß ein bis über die Ohren in
eine natürlich geniale Künstierin verliebter Landjunker aufstöhnt, seinen Hut ergreift und aus¬
reißt, als er hört, daß seine Erwählte schon einmal einem andern Manne angehört hat. Der