II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 243

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16.1. Lebendige Stunden—Zyklus
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Bühne und Welt.
durch seine Drohungen das Geständnis probozierende einstige Verführer ist ein ganz unmöglicher
Theaterbösewicht. Nr. 3, der Fall Rilke, bedeutete die Tragikomödie des Lprikers auf der
Schaubühne, die wir nicht zum ersten und vermutlich nicht zum letzten Male erlebt haben.
Mitleidslos wurde in diese hübsch gedachten und ganz ernst gemeinten, aber unwillkürlich paro¬
distisch wirkenden Dialoge dieser kleinen Ateliergeschichte von dem jungen Maler, dem stillen,
braven Modell und der nach neuen Sensationen lüsternen Weltdame hineingelacht. Unser
Epriker wollte in aller Unschuld im Stil des Ibsenschen Epilogs, verbrämt mit lprischen Floskeln,
zu uns reden. Und zum Ueberfluß hatte man eine mit Luise Dumont allenfalls mögliche Rolle
mit der feschen Darstellerin der „Dame von Maxim“ besetzt! Martin Zickel zeichnete verant¬
wortlich für die Regie; er hat kurz darauf der Stätte, wo ihm keine Lorbeeren erblühten,
Dalet gesagt.
Im Belle=Alliance=Theater hat sich kurz vor Jahresschluß eine neue wagemutige
Direktion eingefunden. Bei den unübertroffen wechselreichen Geschicken dieser Bühne, auf der
selbst ein so eifriger und hohe litterarische Ziele — Grabbes „Napoleon“ und Ibsens „Kaiser und
Galiläer“ erlebten z. B. hier ihre Berliner Premieren — verfolgender, dabei geschäftskluger Leiter
wie Georg Droescher si.) nicht zu behaupten vermocht hat, fühlt man sich versucht, das schon recht
baufällige und unmoderne Haus mit einem Berg von Scherben, auf dem keine Frucht zu gedeihen ver¬
mag, zu vergleichen. Möglich, daß grobstoffliche und grobsinnliche Reizungen, wie sie die bisherige Dar¬
bietung des neuen, aus dem Thalia=Theater stammenden Direktors: ein Daudeville, „Die Dame aus
Trouville“, mit derben Witzen, Canzmusik, Ausstattungspomp und Mädchen im Badekostüm, enthält, auf
die große Masse stärkere Anziehungskraft ausüben. Für die litterarisch Anspruchsvolleren war ein
den Beschluß des Abends machender neuer Einakter von Oskar Metenier „Er“ eine inter¬
essante Ueberraschung. Das nächstliegende grobstoffliche auch dieses Vorgangs, die unverschleierte
grausige Dikanterie der Situation — ein Mörder wird in einem öffentlichen Hause von einer
Dirne, die er öfters zu besuchen pflegte, entlarvt und der Polizei überliefert — mag bei manchem
ein übles Dorurteil gegenüber dem Stück erwecken, aber psochologisch und bühnentechnisch ist
dieser Einakter des französischen Romanciers und Freundes Zolas, der seiner Thätigkeit als
Ressortchef der Pariser Kriminalpolizei schon manche Anregung in seinem litterarischen Schaffen
verdankt, ein kleines Meisterstück. Blitzartig wird die unheimliche, jedem Kriminalisten bekannte
Seelenverwandtschaft zwischen Prostitution und Verbrechen, die komplizierte und wiederum elementare
Pfrchologie des Mörders in diesen Scenen beleuchtet, das Mitteilungsbedürfnis, der Drang, sich
in Alkohol und Liebe zu betäuben, das renommistische Spiel mit dem halben Geständnis, die
kindische Furcht vor Entdeckung, die Qual des bösen Gewissens, der verzweifelte Kampf des
schweren Derbrechers geschildert und auf der andern Seite die instinktive Ahnung, der elementare
Selbsterhaltungstrieb, die fast blödsinnige Furcht des noch nicht ganz verdorbenen Mädchens vor
dem „Freunde“. Adele Hartwig und Leopold Thurner lehrten mit ihrem ganz auf die
Intentionen des Dichters einaehenden virtuosen Spiel manchem Zuschauer das Gruseln.
Die erste Novität des neuen Jahres brachte am 4. Jan. das Deutsche Theater mit der
Uraufführung von Arthur Schnitzlers Einakter=Cpklus „Lebendige Stunden“. Sämtliche vier
Teile dieses Cpklus behandeln ein litterarisch=künstlerisches Problem in verschiedenartiger Be¬
leuchtung. Die Idee, die den Dichter leitete, ist reichlich abstrakt und akademisch. Glücklicher¬
weise ist es ihm zum größeren Teil gelungen, sie mit blühendem Leben zu umkleiden „Lebendige
Stunden“, wie der Gesamttitel und der Untertitel des ersten Stückes lautet, sollen die Stunden
wirklich durchlebten Lebens im Gegensatz zu den Schöpfungen des Ateliers und Schreibtisches
sein. Ist es richtig, daß Schreibtisch und Atelier das Opfer solcher lebendi##n Stunden wie ein
gräusiger Moloch heischen, daß dem Künstler alles, was er gelebt und andere mit ihm und für
ihn gelebt haben, Litteratur wird oder bemalte Leinwand? Daß er das Opfer des Codes selbst
seinem Schaffen dienstbar macht, zarte Bande knüpft mit dem Hintergedanken, ein Thema für
einen neuen Roman zu erhalten? Diese Frage, die mit dem Feldgeschrei l’art pour l’art und
der von manchen Seiten vielbeklagten Verästhetisierung des modernen Lebens, wenigstens in
gewissen Schichten, zusammenhängt, weiß Schnitzler mit unleugbarem Geschick zu drehen und zu
wenden und am glücklichsten da zu beantworten, wo er sie mit überlegener Ironie und tändelnder
Satire anpackt. Die beiden ersten Einakter bereiteten mehr oder minder eine Enttäuschung. Die
That der kranken Dichtermutter, die ihrem Leben vorzeitig ein Ziel gesetzt, um ihrem jungen
Sohne durch die Sorge um sie und den quälenden Anblick ihrer Hinfälligkeit nicht länger das
Herz zu bedrücken und die Schaffenslust zu rauben, erscheint, zumal unter den vom Dichter er¬