II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 298

Carl=Theater. Gestern hat die Eröffnungsvorstellung
7.
des Gesamtgastspiels des Deutschen Theaters in Berlin be¬
gonnen und zwar gelangte aus diesem Anlasse der Einakter¬
zyllus „Lebendige Stunden“ von Artur Schnitzler zur
Aufführung. Die vier Stückchen, die scheinbar ganz ver¬
schiedene Fragen behandeln, sind miteinander durch eine
gemeinsame Idee in Verbindung gebracht, ähnlich wie dies
bei Sudermanns „Morituri“ der Fall ist. Diese gemeinsame
Idee ist die, daß die verschiedenen Kunstformen nicht immer##
Für
im stande sind, Ereignisse des wirklichen Lebens festzu¬
100
halten, sondern daß selbst aus der Vernichtung mensch=#ir
200
lichen Daseins neues Leben erblühen kann, indem gerade ius.
500
dadurch zu künstlerischem Schaffen Anregung gegeben wird.
1000 In dem ersten Einakter wird das, was der Verfasser will,
das
In
am deutlichsten ausgesprochen. Ein junger Dichter hat meh¬
den
Abonnem
rere Jahre hindurch nichts Neues hervorbringen können,
Abonnen
weil ihn die Leiden seiner kranken Mutter am Arbeiten hin¬
1 die
derten. Als sie stirbt, fühlt er, daß die schlaff gewordenensgen¬
Dr Schwingen sich wieder regen und auch die Entdeckung, daß
Inhaltsa,
ang“)
die Mutter freiwillig in den Tod ging, um ihn seinemtliche
blätte
Beruf wieder zu geben, kann ihn nicht hindern, weiter zu Mit¬
wodurch
Leben (
leben und die freigewordene Kraft zu gebrauchen. Das zweite
theilung
Stück ist ziemlich unklar in der Diktion. Eine junge Frau
hat mit ihrem Geliebten in der Bildergalerie ein Stelldichein.
Noch trennt die Beiden der letzte, entscheidende Schritt. In
der Galerie hängt das Porträt einer Frau, die in der Rechten
einen Dolch hält, und der Dame, die es betrachtet, Zug für
Zug gleicht. Eine Verwandlung führt uns in die Vergangen¬
heit zurück, in der das sonderbare Bild entstand. Der Ehe¬
bruch, der hier erst noch geschehen soll, ist dort bereits
begangen worden. Die sündige Gattin spielt aber mit dem
Jüngling, den sie beglückte, ein grausames Spiel und dem
heimkehrenden Gatten gesteht sie offen ihren Fehltritt. Als
der von der Geliebten getäuschte, und von deren Gatten ver¬
spottete Jüngling hingehen will, um aller Welt zu sagen, was
geschehen ist, tötet sie ihn mit einem Dolch. Der Gatte aber,
der das Bild seiner Frau bis jetzt nicht vollendet hatte, greift
plötzlich zum Pinsel und so entstand die Leinwand, die den
Namen „Die Frau mit dem Dolch“ trägt ... „Die letzten
Masken“ führen uns in ein Zimmer des Wiener Allgemeinen
Krankenhauses. Ein Journalist und ein Schauspieler
sind dort durch die Nachbarschaft zu Freunden geworden.
Beide sind dem sicheren Tod verfallen. Der Journalist hat
noch den brennenden Wunsch, einem seiner einstigen Kollegen,
den er haßt, weil er es trotz seiner Oberflächlichkeit zu
etwas gebracht hat, ins Gesicht zu sagen, was er über ihn
derkt, und ihm außerdem zu verraten, daß er mit seiner
Frau intime Beziehungen unterhalten hatte. Mit dem Schau¬
spieler vereint wird eine Probe dessen abgehalten, was ge¬
plaut ist. Als aber der „berühmte Dichter“ dann kommt
und sich als ein Mensch entpuppt, der eigentlich gar nicht
glücklich ist, sondern einen häßlichen Kampf um sein
literarisches Renommee führen muß, ohne dafür durch reines
Familienglück entschädigt zu werden, bleibt es beim Vor¬
satze, und der Journalist nimmt seine Anklagerede mit
in sein Grab. In dem vierten Stückchen, einem Schwank, der
sich „Literatur“ betitelt, macht sich der Verfasser gleich¬
sam selbst über das lustig, was er uns in den früheren
Einaktern mit eindringlichem Ernste und großen
Phrasen sagen zu wollen schien.
Eine ge¬
schiedene Frau, die auch sonst schon ihre Vergangenheit
hat, will sich in zweiter Ehe mit einem Baron verheiraten,
der von ihren schriftstellerischen Alluren nichts wissen will,
da er nur Sportzeitungen als „Literatur“ anerkennt. Da
begibt sich etwas, woran die Heirat beinahe scheitern würde.
Die junge Frau und nunmehrige Braut hat einen Roman
drucken lassen, der ihren Briefwechsel mit einem „Freund“
als Dokument. „lebendiger Stunden“ enthält. Gleichzeitig
hat aber sanich jener Freund dieselben Briefe in einem
von ihm verfaßten Roman verwendet, so daß keine Entdeckung
des wahren Sachverhalts sicher zu erwarten steht. Der Baron
kauft nun zwar die vollständige Auflage des Romans seiner
künftigen Frau auf und läßt sie einstampfen, ein Exemplar
aber bringt er mit, um es zu lesen. Doch die einstige Schrift¬
stellerin wirft auch dieses ins Feuer, was der Baron entzückt
für einen Beweis ihrer Liebe hält. Wie man sieht, ist der
Zusammenhang der vier Einakier ein sehr loser und ebenso
machen auch die einzelnen Stücke den Eindruck des Ge¬
künstelten und mühsam Konstruierten. Am wenigsten ist dies
noch bei dem letzten Einakter der Fall. Was die Darstellung
anbelangt, so war sie in den Hauptsachen eine vorzügliche.
In erster Linie sind die Herren Reinhardt, Rittner,
[Kayßler sund Albert Bassermann zu nennen. Von
den Damen des Berliner Ensembles war gestern nur Irene
Triesch hervorragend beschäftigt. Sie ist keine Schau¬
spielerin nach dem Geschmack der Wiener, auch nicht jenes
Publikums, das mit ihr eines Stammes ist. Die zahlreich
versammelte „Schnitzler=Gemeinde“ bereitete den vier Ein¬
aktern natürlich eine sehr geräuschvolle Aufnahme.