II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 359


ganze Szene mit Weihgast vor, wie sie sich abspielen werde. Wozu
diese ganze Geschichte? Und dann kommt richtig der Weihgast und
der Sterbende sieht seinen letzten Wunsch erfüllt und .. vertrödelt
die Zeit, ohne ihm auch nur einen Tropfen von all dem geplanten
Gift ins Gesicht zu spritzen. Er hat nicht das Talent, wie jener
Schmierenspieler, sich noch am Rande des Grabes eine lebendige
Viertelstunde zu machen.
7
Den Schluß macht das Lustspiel: „Literatur“. Es ist einfach
köstlich. Wenn es nicht von Arthur Schnitzler wäre, könnte es von
Frank Wedekind sein. Es sprudelt von Unverfrorenheit, blague,
Snobismus. Doch nein, denn es hat auch einen ernsten Kern und
führt die Weiber ad absurdum, die sich „im Trikot bei Ronacher
hinstellen“ indem sie erdichtete oder halberdichtete Sünden als
„Literatur“ von sich geben. Da ist diese kleine Margarethe, die sich
in München mit der Bohème herumgekugelt hat und nun einen etwas
einfältigen Baron heiraten soll. Welche Rettung. Aber sie hat heimlich
einen Roman geschrieben, der soeben erscheinen soll, und das schreckt
den Baron wieder ab. Höchst amüsant ist der Besuch ihres Münchner
Geliebten Gilbert, der auch einen Roman geschrieben hat. Er schildert

sein Verhältniß mit ihr, sie ihres mit ihm. Natürlich „stilisirt“,
d. h. übertrieben ... oder untertrieben, je nachdem. Denaturirt auf
alle Fälle. Nur daß beide ihre beiderseitigen wirklichen Liebesbriefe
mit aufgenommen haben! Wenn das erscheint, was wird der Baron
sagen? Das Malheur ist so grotesk und die beiden Romanciers in
ihrem Geniethum sind so komisch, daß Schnitzler Unrecht hätte, wenn
er nicht Gnade für Recht ergehen ließe. Der Baron ist „Tepp“
genug, um beim Verleger Künigl die ganze Auflage seiner Margarethe
aufzukaufen und se Dichterin doch zu ehelichen. Die Auflage soll
eingestampft werden, bis auf ein Exemplar, das er zu lesen gedenkt.
Wir rathen ihm dringend davon ab. Die lebendigen Stunden eines
so nahestehenden Vorlebens bleiben besser lebendig begraben.
Der Erfolg des Schnitzler=Abends war vollständig. Das zweite
Stück erregte Beifallsstürme, obgleich es ungeschickt szenirt ist und
etwas poesielos gespielt wurde. Das zweimalige Zerschneiden des
Aktes durch den Zwischenvorhang — das zweite Mal glaubte das
Publikum, es sei schon aus — ist ein unglückseliges Auskunftsmittel.
In der Darstellung versagte besonders Frl. Triesch, der es an
dem visionären Zuge fehlt. Sie hat überhaupt nicht die Nerven für
dieses Stück; im vierten Einakter, als Dichterin Margarethe, be¬
währte sie sich viel besser. Das dritte und das vierte Stück wurden
überhaupt vorzüglich gespielt. Da sind keine poctischen Stimmungen zu
brauen. Die Spitalgeschichte war zum Gruseln und zum Lachen zugleich.
Herr Reinhardt hatte sich eine schauerliche Sterbemaske auf¬
gemalt, der er im Sprechen tragikomische Lichter aufsetzte. Der
andere Patient allerdings sah keineswegs aus, als hätte er nur
mehr acht Tage zu leben. Herr Fischer spielte ihn kerngesund.
Meisterhaft war Herr Bassermann als Dichter Weihgast; gro߬
artige Pelzfigur mit hoher singender Stimme, jede Faser Affektation-
ein Exemplar zum Ausstopfen. Auch in „Literatur“ war Herr
Bassermann als wienerischer Baron ganz vorzüglich; mit großer
Diskretion zwischen Charakter und Charge schwebend. Hier sind auch
Herr Rittner (Gilbert) und Frl. Triesch (Margarethe) zu
loben. Dieses vierte Stück setzte dem Abend die Krone auf. Man
hat sich schon lange nicht so gut amüsirt und so schallend gelacht.
Der Verfasser wurde vom zweiten Stück angefangen oft und stürmisch
gerufen.
L. H—1.
Der Untergang der Sängethiere.
Die Zahl der Menschen, welche Interesse für Naturwissenschaft und
Liebe zur Natur hegen, hat in den letzten hundert Jahren, trotz des be¬
deutenden Fortschrittes, den diese Wissenschaft selbst gemacht hat, eigentlich
nicht zugenommen. Die größeren Ansprüche, welche Amt und Geschäft an
die Thätigkeit und Zeit jedes Einzelnen stellen, mögen daran wohl Schuld
tragen. Und dann — wo gibt es denn jetzt noch ursprüngliches Naturleben?
Ueberall sind die Menschen bestrebt, die Natur für ihre Zwecke herzurichten,
also eigentlich
zu vernichten. Wald wird Forst, Wiese wird Feld,
Eisenbahndämme und Telegraphenleitungen zerstören das Bild der
Landschaft.
Immer weitere Gebiete werden in den Bereich der Kultur gezogen.
Die großen weißen Flächen mit der Inschrift „Unbekannt“ sind aus den
Landkarten Aftikas, Australiens, Asiens verschwunden, alle diese Gebiete
sind in den letzten Jahrzehnten erschlossen worden. Eisenbahn und
Telegraph werden in Kurzem auch noch die letzten Schlupfwinkel, in denen
heute noch ursprüngliches Naturleben herrscht, erreichen, Axt und Feuer
werden den Urwald vernichten und mit seinen letzten Resten werden auch
seine Bewohner für immer verschwinden.
Wohin der Weiße mit seinem Feuerrohr dringt, spielt sich ein ver¬
zweifelter, aussichtsloser Kampf zwischen ihm und der einheimischen Thier¬
welt ab und der Schluß ist immer — Vernichtung der Säugethiere, welche
das Gebiet bevölkerten.
Die Mehrzahl von uns hat wohl eine ganz falsche Vor¬
stellung von dem Reichthum an Thieren im Innern der großen
Kontinente. Im Geiste bevölkern wir die Prärien Amerikas
noch immer mit zahllosen Büffelherden, sehen wir noch
.
die Steppen und Walder der Tropen durch die interessantesten und hervor¬
ragendsten Großthiere belebt. Wie wenig entspricht dieses Bild der Wirk¬
lichkeit! Die Vereinigten Staaten, die reichen Jagdgründe der Rothhäute,
sind heute vielleicht eines der wildärmsten Gebiete der Welt, die Heerden
von Wildthieren der Tropenländer sind zu spärlichen Rudeln zusammen¬
geschmolzen. Die Ausbeute eines mehrwöchentlichen Jagdausfluges in
Afrika, dem Idealland des Jägers, besteht oft blos aus einigen Anti¬
lopenfelten.
Das Vordringen der Kultur, die Vervollkommnung der Transport¬
mittel und der Jagdwaffen bedeutet für die Welt der Säugethiere eine
Katastrophe, mit welcher nicht einmal die Wirkungen von Eiszeiten, Sint¬
fluthen, vulkanischen Eruptionen, ja selbst das Untergehen ganzer Kontinente
in früheren Erdperioden verglichen werden kann, denn das Eintreten
derartiger Ereignisse und demgemäß auch die klimatischen und territorialen
Veränderungen, welche sie im Gefolge hatten, war wohl in den
meisten Fällen kein plötzliches, sie trafen nicht alle Theile der Erd¬
oberfläche gleichzeitig, so daß einer großen Zahl von Arten Flucht
in andere Gegenden oder Anpassung an die veränderten Lebensbedingungen
ermöglicht wurde. Ja selbst, wenn die gesammte Thierwelt einer großen
Insel eines Kontinentes vernichtet wurde, so konnte dennoch eine Fanna,
durch Besiedelung von anderen Gebieten aus, neu entstehen.
Die Katastrophe, welche durch den Fortschritt der Kultur jetzt die
Säugethierwelt bedroht, ist aber nicht partieller Natur, und ihr Um¬
sichgreifen kann nicht durch Gebirge, Thäler, Flüsse und Meere aufgehalten
werden.
Immer war der Mensch der größte Feind der wildlebenden Säuger,
denn viele Arten bedrohen seine Existenz unmittelbar, wie die großen
Raubthiere, viele Arten schädigen seine Pflanzungen. Die primitiven Waffen
der Jäger konnten aber in alten Zeiten dem Wildbestande keinen allzu großen
Schaden zufügen. Durch die mörderischen Jagdwaffen der Neuzeit werden jedoch
in den kommenden fünf Jahrzehnten mehr Säugethierarten der Vernichtung
anheimfallen, als in den verflossenen fünf Jahrtausenden vernichtet
worden sind.
Diese Behauptung mag auf den ersten Blick übertrieben erscheinen,
denn noch zählt man an 2000 Arten von Säugern. Aber man darf den
Umstand nicht übersehen, daß die Zahl der Individuen in jeder Art in
reißender Abnahme begriffen ist und deshalb das Erlöschen vieler Thier¬
geschlechter auf einmal, in einem kurzen Zeitraum erfolgen muß.
Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß die großen Räuber, Löwe,
Tiger, Panther, Bär, deren Bestand neben dem Menschen einfach unmöglich
erscheint, in den nächsten Jahrzehnten ausgerottet sein werden, doch auch
harmlosere Thiere, wie die großen Dickhäuter, Menschenaffen, Wildstiere,
Giraffen, Antilopen, Wale und Robben dürften bis dahin das Schicksal
des Auerochsen, des Alpensteinbockes, des Elches, Bisons, Quaggas 2c.
getheilt haben, sie werden gänzlich oder bis auf wenige geschonte Reste aus¬
gerottet sein.
Man kunn sich daher leicht eine Vorstellung davon machen, was bei
fortgesetzter Verfolgung von den noch heute existirenden 2000 Sängethier¬
arten, abgesehen von unseren Hausthieren, übrig bleiben wird. Es werden
dies blos die kleineren Arten der Affen, Nagethiere, Insektenfresser, Raub¬
thiere, Delphine und die gehegten Jagdthiere sein.
Diese Katastrophe von der Säugethierwelt abzuwenden, erscheint uns
undenkbar, wer wollte den Schritt der Kultur hemmen? Und das müßte
ja geschehen, wollte man die hauptsächlichste Lebensbedingung der Thierwelt
erhalten, nämlich den Urzustand auf großen Gebieten. Aber verzögern könnte
man vielleicht den Untergang vieler harmloser Säuger, welche in den ent¬
legenen Gebieten, die sie heute bewohnen, dem Menschen noch keinen
Schaden zufügen, durch Einstellen sinnloser Thierschlächterei, welche gerade
dort getrieben wird, durch Anlage von Reservationen und Thiergärten in
großem Styl.
Wie dem auch sei, unsere Zeit, das verflossene und das nächste
Jahrhundert wird in der Naturgeschichte der Säugethiere eine Bedeutung
erlangen, von der wir überhaupt noch keine Ahnung haben, in dieser kurzen
Zeitperiode wird sich der Untergang der uns am nächsten stehenden Be¬
wohner des Erdballs, der Säugethiere, zum größten Theil vollzogen haben.
Sollte aber einst in einer feiner fühlenden Generation der Sinn für
Natur und ihre vergangene Schönheit allgemein erwachen, so wird man
vielleicht mit Trauer unsere Zeit als diejenige bezeichnen, in der die
Menschheit sich mit einer unfühnbaren Schuld belud, indem sie einen der
größten Reize der Natur durch die Ausrottung der Säugethiere vernichtete.
Der gerodete Wald ersteht wieder, sobald wir ihn sich selbst über¬
lassen, aber eine vernichtete Thiergattung bleibt vernichtet, für immerdar.
Nur aus spärlichen Resten, Abbildungen und Ueberlieferungen werden
spätere Gencrationen sich ein undeutliches Bild von der heute noch so
mannigfaltigen Fauna machen können.
Wir können uns nur schwer einen Begriff davon machen, wie ver¬
ändernd auf das Gedankenleben des Menschen der Anblick der Natur
wirken wird, in welcher die Säugethiere fehlen werden.
Die Fabel, Sprüchwörter, Gleichnisse aus dem Thierleben, werden
aus der Sprache verschwinden, dem Künstler wird die Anregung, welche
ihm die Thierwelt bot, dem Forscher das Material, dem wahren Natur¬
freund eine Quelle hohen Genusses für immer entzogen bleiben.
R. Child.