II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 674

in den vier unter dem zusaumenfassenden Titel „Leben¬
dige Stunden“ aufgesührten Einaktern Arthur
Schnitzler's um allerlei vom Leben und Sterben. Er
nimmt beide vom zusammenfassenden Standpunkte auf
und will die Begriffe miteinander vermitteln, ineinander
überleiten, gleichsam im Leben das Sterben, im Sterben
das Leben aufweisen. Wie die vier Teile eine Symphonie,
schließen sich die vier Einakter zusammen, nur daß das
Scherzo hinter das Finale gerückt ist, die lustige Umkeh¬
rung des Themas hinter den bitteren Schluß, wo im
Sterben die letzten Masken abfallen. Es ist ein Anschwellen
und Verklingen immer derselben Tonfolge in allen vier
Stücken. Hier ist das Leben bunt, reich, verworren, bitter
und dort ist der Künstler, an den dies Leben heran¬
brandet, feindlich oder auch schmeichelnd, immer aber so,
daß es ihn unterkriegen würde, wenn er sich nicht zu
wehren wüßte.
Wie steht der Künstler zum Leben? Dies ist das von
einer reichlich abstrakten und akademischen Idee getragene
literarisch=künstlerische Problem, das die vier Teile dieses
Cyclus um und um wenden und in verschiedener Be¬
leuchtung behandeln. Was gilt der Tod des Individuums?
scheint der erste Einakter „Lebendige Stunden“ zu fragen:
Baut sich nicht über dem ärmlichen Einzelschicksal das
Leben der Gesamtheit auf?
Hier trauert ein Sohn, ein Dichter, mit dem Herzens¬
freunde seiner Mutter um deren Tod. Aus dem Munde
des Freundes erfährt jener in der Form des Vorwurfs,
daß sich die Mutter um des Sohnes willen mit Mor¬
phiumpulvern den Tod gegeben, da sie es nicht mit
ansehen konnte, daß er im steten Anblick ihres lang¬
wierigen Leidens sich vor Leid verzehrte, daß er aus der
Stimmung des Schmerzes heraus nicht mehr zu arbeiten,
nicht mehr zu schaffen vermochte. Der väterliche Freund
vergeht in Klagen um das vorzeitige Ende der Verbli¬
chenen, sie hätte ja noch zwei bis drei Jahre ihm Freundin
sein können. Er wünscht in Trauer auszuruhen, er sieht
in allem, was den Sohn noch über sein Weh hinaus
beschäftigt, Gemütsroheit, Mangel an Pietät, Herzlosigkeit.
Der Sohn vertritt dem gegenüber den Standpunkt des
wirkenden, Werte schaffenden Daseins. Er sieht in dem
gänzlichen Sichverlieren im Scheidungsweh ein billiges
Zurückweichen vor den Wirklichkeiten des Lebens, ein
fast kokettes Sichselbstgenießen des Schmerzes, der sich
immer aufs neue im Spiegel zu besehen wünscht, um sich
desto bedauernswerter vorzukommen. Er leidet um die
Hingegangene so gut wie einer; aber er glaubt in ihrem
Sinne zu handeln, er glaubt ihr Opfer erst ganz zu
ehren, wenn er es nicht umsonst geschehen sein läßt, wenn
Nr gerade aus seinem völligen Verständnis heraus danach
strebt, wieder ein schaffender, ein tätiger Mensch zu sein.
Das ganze gibt sich als hübsches, sinnvolles Apereu,
als eine dramatisch anspruchslose Plauderei, enttäuscht
aber doch, da die Tat der kranken Dichtermutter zumal
unter den vom Dichter erzählten Beglektumständen ge¬
radezu abstrus und psychologisch ungeheuerlich erscheint.
Gespielt wurde dieser erste Einakter von den Herren
Freytag und Fleischer, die die richtige Stimmung
von Beginn bis Schluß einhielten, sehr, sehr brav.
Die Geschichte der „Frau mit dem Dolche“,
die in den knappen Rahmen eines Einakters eine Traum¬
handlung und zwei reale Szenen fassen will, ist eine zu
breit geratene und gesucht pointierte Spielerei. Die Frau
eines Dichters gibt dem stürmischen Werben eines jungen
Menschen nach, den sie nicht liebt, dem aber ihre Sinne
sich zuneigen. Sie weiß, ihr Mann wird daraus ein
neues Drama machen und vielleicht sie töten, aber trotzdem
oder deshalb tut sie es aus Trotz und Wildheit der
Triebe, die sich dagegen aufbäumen, sich immer nur einer
Psyche unterordnen zu sollen, die von der Kunst bis in
alle Fasern so gesättigt ist, daß sie alles Erleben zur
Steigerung dieses Inhalts verwertet. Sie tut es, wie
Paola, die Frau mit dem Dolche in der Gemäldegalerie,
vor dreieinhalb Jahrhunderten es getan mit dem jungen
Maler Lionardi, den sie dann in Gegenwart ihres zurück¬
gekehrten Mannes, des Meisters Romigio, erstach. Und
aus der schönen Geste machte Romigio in derselben
Stunde ein Bildchen, in welchem er die Treulose richtet.
Als aber die Szene sich wieder in den Saal der Gemälde¬
galerie verwandelt hat, sagt die junge Frau, die si
ganz anderes hinaus. Jemanden, der in seinem ganzen
Leben ein ehrlicher, mit leidenschaftlichem Ernst strebender
Schriftsteller gewesen ist, der es aber zu nichts gebracht
hat, packt in seinen letzten Stunden im Krankenhause
ein unlöschbarer Haß gegen einen befreundeten Kollegen,
der zu Geld und Ehren gekommen ist, dessen ganze Hohl¬
heit er indessen durchschaut. Er läßt ihn zu sich bitten,
um einmal an ihm den Rächer zu spielen, ihn tötlich zu
verwunden. Nicht nur, für wie nichtig und niedrig er
ihn all sein Lebtag gehalten, will er ihm sagen — das
ist zu wenig, zu sanft — nein, daß er auch da, wo er
rein menschlich am glücklichsten zu sein glaubte, ein ein¬
gebildeter Fant, ein Nichts war, daß sein „bester Ka¬
merad“ seine Frau, ihn betrogen hat mit ihm, dem
Kranken und nichtgeachteten Kollegen, das ihm entgegen¬
zuschleudern, soll ihm die letzte Genugtuung verschaffen.
Er erzählt alles dem erwähnten Schauspieler; der ver¬
achtete „Freund“ erscheint und — plötzlich ist alles Rache¬
gefühl, alle schäumende Wut verschwunden. Der Kranke
sitzt nur da und starrt und staunt und läßt den anderen
ungekränkt ziehen. Er sieht, wie wenig auch jenem all
sein äußerliches, sich selbst wegwerfendes Jagen und Er¬
raffenwollen geholfen hat, wie er vor ihm dasitz. als ein
elender, verächtlicher Gauch, elender als er, der Krank¬
selber, und zugleich mischt sich ihm das Gefühl hinein,
was er, der abgeschlossen hat mit allem, der eigentlich
durchgedrungen ist zu der großen Klarheit, der erha¬
benen Stille in sich selber, denn noch zu tun habe mit
dem erbärmlichen Hasten der anderen da im Leben, mit
dem trostlosen Gewimmel kleinlicher, bedürftiger Menschen¬
kinder. Er läßt jenen gehen; es verlöschen die Lichter;
er stirbt. Das Stück ist in seiner Stimmung, innerhalb
der psychologischen Begrenztheit des Einakters, vortreff¬
lich gearbeitet. Charaktere und Milien sind mit packendem
Realismus psychologisch, fein und liebevoll gezeichnet.
Lediglich die Unmöglichkeit stört, daß der Kranke, dieser
wilde, innerliche Hasser, einem eitlen Mimen die Szene
mit dem erwarteten Freunde zuerst vorspielt.
Das Stück gelangte von den Herren Bodanski,
Stößl, Fischer, Ramhartner mit Verständnis
für das Ganze und in richtiger Auffassung und Stim¬
mung sehr brav zur Darstellung.
Zur Tragikomödie dieses Aktes bildet der den Be¬
schluß des Zyklus machende Schwank „Literatur“ das
Satyrspiel. Dieses vierte Stück ist unendlich lustig, von
einer sprühenden, befreienden, erschütternden Komik. Ein
Literaturweibchen, schlau=und albern zugleich, prickelnd,
fesselnd und widerwärtig, echt in ihrer Nachäfferei,
äffisch in ihrer Echtheit, wird den Sportsmann Baron
Klemens heiraten, den sie sich aus einem Münchener
Literatencafé geholt hat. Aber sie kann das Dichten nicht
lassen, und so hat sie einen Roman geschrieben, den
Roman ihres Lebens, natürlich mit Verschleierungen.
Aber die Briefe sind darin, die sie mit ihrem Münchener
Kaffeehausfreund Gilbert gewechselt hat, nicht bloß seine,
sondern auch ihre Briefe. Denn die hatte sie sich — es
ist zum Schreien — vorher aufgesetzt. Und jetzt kommt
etwas entzückend Tolles. Baron Clemens, der nun ein¬
mal das Dichten als unfein nicht leiden kann, ist ärgerlich
fortgegangen, als er hört, daß der Roman, der schon
gedruckt ist, in acht Tagen erscheinen soll. Gilbert kommt,
seine einstmalige Geliebte zu sehen. Auch er hat einen
Roman geschrieben, auch er hat die Briefe hineinge¬
nommen, die seinigen neben den ihrigen. Die seinigen
hatte er sich vorher zwar nicht aufgesetzt, aber nachher
abgeschrieben. Es würde einen europäischen Skandal
geben, wenn die beiden Romane erschienen, der Baron
würde fürchterlich Rache nehmen. Aber Alles wendet sich
zum Guten. Der gute Baron hat die ganze Auflage des
Buches seiner Braut aufgekauft und wird sie einstampfen
lassen. Nur ein Exemplar hat er behalten. Entsetzlich!
Wenn er nun doch die Briefe in diesem wie in jenem
Buche findet? Aber die schlaue Komödiantin weiß Rat.
Sie schleudert das gefährliche Buch ins Kaminfeuer,
damit der Geliebte den rührenden Beweis erhalte, wie
sehr sie ihn liebe. Die Briefe wird er in dem Roman
Gilbert's lesen, aber er wird nicht wissen, daß sie keine
Erfindung sind.
Es liegt eine freie, prächtige Ironie in dem Ganzen,
die, ohne den gebührlich gezeichneten dekadenten Boheme¬