II, Theaterstücke 16, (Lebendige Stunden. Vier Einakter, 1), Lebendige Stunden. Vier Einakter, Seite 709

in dem berühmten Theatermann fand ich, wie es einst gewesen.
Er wurde gewiß von der gleichen Erinnerung befallen — sie
war uns so wert, daß wir sie nicht aussprachen, Hier sei sie er¬
wähnt. Wie lange ist es her? Im Frühling 1894 begleitete ich
Otto Brahms von München nach Salzburg. Der neue Direktor
des Deutschen Theaters war auf der Talentsuche. Brahm kam wirk¬
lich als Skeptiker nach Salzburg, und an ihm verwirklichte sich
das alte Wort: wer wenig sucht, der findet viel. Er ahnte auch
nicht, was er gefunden, als er Salzburg verließ. Wer hätte es
damals ahnen können?
In demselben Stadttheater, das heute unter dem Stern der
Festspiele steht, wurde im Frühling 1894 „Heimat“ von Suder¬
mann gegeben. Brahm wollte das Schauspiel eines jungen Dar¬
stellers egen sehen. Dieser Zwanziger aus Wien spielte Magdas
gichtbrüchigen Vater, er hieß Max Reinhardt. Es war eine vor¬
zügliche Leistung von auffallender Reife und Kraft. Brahms
sprach das Schicksalswort: „Ich werde ihn engagieren.“ Nach der
Vorstellung erwarteten wir den jungen Schauspieler im „Oester¬
reichischen Hof“, der damals schon war, wo er heute ist. Max
Reinhardt kam, mit einem Freunde, wenn ich mich recht erinnere,
einem kleinen Komiker des Salzburger Theaters, Marx war sein
Name, und auch ihn verpflichtete der Direktor aus Berlin, der die
große Hoffnung war.
Man rekonstruiert gern, wenn man den Weg einer Persönlich¬
keit zurückblickt. Im Falle Max Reinhardt sind die vordeutenden
Lichtzeichen nicht leicht zu finden. Er war von vornherein eine
starke Persönlichkeit, ganz gewiß, aber mehr noch als bei vielen
anderen traf sein Eigenstes mit Strömung, Wachstum, Kultur¬
reife der Zeit zusammen. Er war Erwecker und ebenso Werkzeug.
In seinem Wesen lag immer neben der zähen Energie die Demut
des Getriebenen, Wollenden, weil Müssenden. Für das Märchen
des Lebens wie für das der Kunst prädestiniert, trug er seine
Sehnsucht, die sich zu Sehnsüchten fand, kühn und still, musik¬
froh und melancholisch, jung, aber nur ein Teil der Jugend.
So stieg er empor, und es heftete sich an seine Gestalt das
Starke und das Gefährliche der Zeit. Machtwille, Ruhm und
Mammon, von allen Blüten der Künste umrankt. Ein Künstler¬
bild, das so in's Weite und Breite ging, daß es hier besonders
not tut, den Menschen hinter dem Namen, die echte Sehnsucht
hinter Projekten, Erfolgen, blendenden Lebensgütern zu finden.
Nach 33 Jahren hat der junge Schauspieler von einst die
Weltgeltung Salzburgs verstärkt. Er zaubert große Theater¬
kunst in das heilige Reich der Kirchen und Kulturdenkmäler. Er
ist Herr eines Schlosses, das einst dem Kaiser von Oesterreich
gehört hat. Nein, an der Wiege werden nur Ammenlieder ge¬
sungen — so etwas nicht.
Die Stadt des Trostes macht den, der sie gefunden hat, emp¬
findlich. Ich kenne Reinhardts Weg und fragte mich oft: Was
ist mit diesem österreichischen Künstler geschehen? Daß er nicht
nur Erfolgskind war, wußte ich. Hier wirkte ein tieferes Sym¬
bol des Menschenlebers. Ein Weg empor, aus der Tiefe zum
Licht, ein Traumverwrklichen. Das war (s. Nur Wenigen ist
es verliehen. Das (teich der Träume bleibt unbegrenzt, doch
wer packt die schimmirnden Bausteine, wer schichtet sie auf, wer
schafft ein Werk der Architektur? Ich glaube nicht, daß der
Traumbau Max Reinhardts schon im Anbeginn der Laufbahn
seinen Grundstein fand. Wahrscheinlich hat der junge Schau¬
spieler vor 33 Jahren nichts von dem weltbekannten Festspiel¬
leiter, dem Schloßherrn in Leopoldshorn geahnt. Es trieb ihn,
und so trieb er sich. Sehnsüchtig sind alle jungen Künstler, doch
in diesem war die Möglichkeit des Festhaltens, der Träumer er¬
wachte und verwirklichte den Traum. Das ist sein Phänomen.
„Verwirklichung“ — das Wort ist nicht von dieser Welt und steht
doch in der Welt, sehr nahe der Wirklichkeit.
Salzburg machte mich empfindlich, wei ich es liebe, wie es
gewesen ist und bleiben muß. Da schadet meinem Gefühl von
Max Reinhardt, dem neuen Max Reinhardt, das viele Hören¬
sagen. Ich mochte den Theatergeist, auch wenn er noch so
glänzend war, nicht in dieses Stadtbild lassen. Mir bangte vor
dem edlen Geviert des Domplatzes, das die Menge der „Jeder¬
mann“=Zuschauer aufnahm. Laßt sie ruhen, die Toten, ewig
Lebendigen — das war mein Gefühl.
So ging ich, halb verstimmt, an dem öden Bretterbehelf der
Bühne und Zuschauersitze auf dem Domplatz vorüber. Ich
wünschte mir nicht, diesen modernen Eingriff in Aktion zu sehen.
Die Frage: Darf es sein? Ist es nicht Unternehmerkeckheit auf
diesem frommen Boden?, wollte nicht verstummen. Dann aber —
die Berührung mit Theatermännern, die in Salzburg recht häufig
zu treffen waren, das Wiedersehen mit Max Reinhardt —, an
einem wolkenlosen Nachmittag saß auch ich vor dem Dom und
sagte mir: entweder, oder. Entweder gilt es etwas, oder es wird
etwas damit ungültig.
Das Ergebnis war die alte, undefinierbare Macht der Theater¬
kunst: öder Bretterbehelf verschwindet, wenn der Zauberer kommt
und spricht. Max Reinhardt ist wirklich ein Zauberer — des
wurde mir vor der Jedermannbühne erst ganz bewußt. Ihm ge¬
hört die Vision, die aus der Materie Geist holt, aus stummen
Dingen Möglichkeit. Sein Theatergenius sah auf dem Salzburger
Domplatz, was stille Lebenssucher nicht sehen konnten. Deshalb

ist es, was nicht auf dem „gettel“ steht. Die Tauben, die in den
Türmen des Domes nisten, schwirren vorüber, und ihr Stichwort
ist das Geheimnis des Instinkts, ein unbekannter Regisseur hat sie
gerufen. Seltsam ergreifend wird jedermanns verzweifelter
Menschenschrei von der stummen Geschäftigkeit der Vögel begleitet.
Das tiefste Rätsel dieser „Regie“ aber läßt auch die einfältige
Kreatur verschwinden, wenn das Heiligtum der Dichtung anhebt,
die zweite Szene der Mutter. Sie geht zum erlösenden Sterben,
rein und willig, dem alten Laternenträger folgend — Sterben
oder Frühmette — die Glocke will es. Sie gedenkt noch einmal
ihres Sohnes, der dicht über ihr auf der „Bühne“ steht und mit
dem Grauen des Todes ringt, nun auch der Erlösung nahe. Diese
Szene ist von Shakespeares, von Goethes Rang, sie streift die Doku¬
mente der Bibel.
Ich ging von nun an anders an dem öden Bretterbehelf auf
Salzburgs Domplatz vorüber. Es stimmte doch, es durfte sein,
und man muß ein Auge zudrücken, wenn das Theater nicht aktiv
ist. Es macht sich ohne die Belebung des Spiels nirgends gut.
Dennoch bleibt ein dauerhafteres Wohlgefühl zurück, wenn die
dämonische Probe auf Einheit von Kultus und Theater nicht erst
gemacht wird. Das Endergebnis ist doch: der Mensch von heute
soll ruhen lassen, was in steinernen Särgen schläft. Das mittel¬
alterliche Spiel hat keine mittelalterlichen Zuschauer mehr, Ethi¬
sches läßt sich niemals ästhetisch wiederbringen, und eine Dissonanz
bleibt das Wort: Ich will naiv sein.
ARN
Deshalb war mir doch die echte, rechte Theateraufführung, die
ich noch im Geiste Max Reinhardts sah, eine Befreiung: Schiller
im Mozartreich, „Kabale und Liebe“ auf der Bühne des
Stadttheaters, wo Figaro gesungen. Ein wundersames Band um
Spiel und Empörung des Rokokoalters. Hinreißend über die
Zeiten hin und ein Kulturdenkmal, wie nur Max Reinhardt es
auf die Bühne stellen kann. Das alte Burgtheater, von Hugo
Thimigs Musikus Miller verkörpert, war mit ihm im Bunde.
Nun ist die Stadt des Trostes wieder dasselbe für mich, was
sie war. Sie ist es, weil mein Gefühl durch Zweifel und neuen
Glauben an Max Reinhardt gegangen ist. Er gehört wieder zu
Salzburg, ein Stück Jugend.