16.4. Literatur box 22/3
#. 1710
1. Februar 1914#
lußerlich. Die Konturen sind gegehen. (Mit Entzücken erinnere ich
mich des alten Hans Pagay, der bei der ersten Berliner Aufführung
vor sechzehn Jahren diese Rolle spielte; er war rührend und
erschütternd.) Die schöne Frau, die sich des Kammersängers wegen
erschießt, wurde von Frau Kalling sehr hysterisch und sehr tragisch
gespielt; auch hier hätte ein karikaturistischer Zug die Ueberleitung
zum Ernst bilden müssen. So kam ein langatmiges Spiel zustande.
bei dem Wedekind Gefahr lief, zu mißfallen. Der Beifall hielt
sich auch in gemäßigten Grenzen und einige fühlten soger das
Bedürfnis, zu opponieren.
Den Abend setzte Courteline fort. Auch er ist einer, an denk
das Burgtheater bisher vorbeiging. Man führte den weltweisen
Franzosen mit der tragischen Posse „Boubouroche“ ein.
Boubouroche ist heute schon ein Begriff, eine Gattung Mensch, fast
ins Klassische aufgerückt. Boubouroche ist der gutmütige, brave
Bürger, der von einer Frau betrogen wird. Er findet einen
Mann im Wandschrank, und doch kann ihm die kleine Kanaille
schließlich einreden, daß er nicht betrogen wurde. Was geht ihn
denn ein Mann an, den er nicht einmal kennt? Die Hilflosig¬
keit eines besuemen Verliebten ist niemals grausamer perfifliert
worden. Herr Treßler ist als Boubouroche ganz außerordentlich.
Schon in der Maske und Erscheinung gibt er den Typus: ein kusz¬
stirniger Spießer, dick, untersetzt und schwerfällig. Herr Treßler
hält das Wohlbehagen der Selbstzufriedenheit und den jähen
Wechsel der Stimmung glänzend auseinander. Er gerät in ein
wildes Rasen, und die Vorniertheit, mit der er sich dann von
dem kleinen Weibchen wieder herumkriegen läßt, ist brillent
charakterisiert. Sehr nett spielt Frau Retty die Verschlagenheit der
Untreue. Dafür verdirbt wieder Herr Zeska die besten Szenen. Ab¬
gesehen davon, daß ihm für die gegensätzliche Rolle zu Boubouroche die
liebenswürdige Beweglichkeit der Jugend fehlt, hat er eine geschniegelte
Tenoristenart heiter zu sein, die überall, nur nicht hier, hinein¬
paßt. Er weiß auch kaum, wo die vielen komischen Detail¬
Husschnitt aus: od Wiener Journal, Wien
wirkungen der Rolle liegen, und greift zu unmöglichen Behelfen:
Chauffeuranzug und Huppe. In einer kleinen Episobe zeigt Herr
1- 2.1975
vom:
Frank ein spitziges Talent für Humor; man hätte ihm die Rolle
Anhan
ee
115
des Herrn Gimnig zuteilen sollen, der für den hämischen Flur¬
nachbar, der den guten Boubouroche aufklärt, nicht genug Witz
Theater und Kunst.
aufbringt.
Der Zweiakter hatte seinen üblichen Erfolg. Den Schluß
Premierenabend im Burgtheater.
des Abends, dessen Stücke nur einen entfernten inneren Zusammen¬
(Zum erstenmal: „Der Kammersänger“ drei Stenen von Frank
hang haben, bildete Schnitzlers „Literatur“. Der seine Spaß ist auch
Wedekind.
„Boubouroche“, tragische Posse von Georges
nicht mehr neu. Aber man sieht ihn immer wieder gern. In
Courteline, deutsch von Siegfried Trebitsch. — „Literatur",
diesem Akt wird das „Metier“ bissig beleuchtet. Das Leben als
Lustspiel in einem Akt von Artur Schnitzler.)
Literatur und die Literatur ins Leben umgemünzt. Fräulein
Von
Marberg spielt die komplizierte Frau, die aus der Baumwoll¬
Leopold Jacobson.
branche auf dem Umweg über die Literatur in die Aristokratie
Mit Trompetenton und Hosiannah den Einzug Wedekinds hineingerät. Sie gibt der Figur ihren amüsanten parodistischen Witz.
in das Burgtheater zu begrüßen, ist kein Anlaß. Was vor und es ist sehr lustig, wenn sie im Dialog plötzlich einen Hauch
Jahren noch als Tat erschienen wäre, ist heute künstlerische Selbst= von Leopoldstadt ahnen läßt. Der Baron mit den gepflegten
verständlichkeit. Man darf sagen: Notwendigkeit. Für Wedekinds Fingernägeln und dem ungepflegten Hirn ist wieder Herr Treßler;
Entwicklung bedeutet das Burgtheater gar nichts; für das Burg= er bietet eine feine und diskrete Charakterstudie. Den plebejerischen
theater aber bedeutet Wedekind, wenn auch nicht Alles, so Kaffeehausliteraten stattet Herr Heine mit seinem eindringlichen
doch viel;
Humor aus, und dieses Zusammenspiel der drei Künstler ließ
eine Ehrensache, eine
Unterwerfung vor
auch nicht den kleinsten Rest von Wirkung verloren gehen.
starken Gegenwartswerten, einen geschäftlichen Erfolg,
eine dankbare Aufgabe. Literarischer Konservatismus, Angst vor
Für alle drei Autoren dankte der diensthabende Regisseur
anarchischer Weltanschauung, Trotz gegen eigenwilliges Künstlertum,
Herr Deprient.
Mißverstehen einer neuen Weltethik, find Dinge, die immer Widerstand
erwarten lassen. Das ist alltäglich und nicht nur bei Hoftheatern Brauch.
Aber die Politik der Kompromisse hätte zumindest die drei Szenen des
„Kämmersängers“ längst ins Burgtheater bringen müssen. Sie
sind nicht revolutionär, nicht anstößig, haben Normalmaß und
gerade so viel Aeußerlichkeiten, daß die Konterbande bequem ein¬
zuschmuggeln war; nur wenige hätten den tieferen Sinn gemerkt.
Aber es ist so Landesbrauch, daß man ganz erstaunt sein möchte,
weil Wedekind doch noch ins Burgtheaser kam; daß es einen
Augenblick lang reizt, den Dichter zu beleuchten. Aber er ist nur
fürs Burgtheater neu, nicht für die Zeit, beinahe schon überholt,
aus dem Streit des Tages ausgeschieden, sogar zurückgeblieben.
Man kennt diesen Einakter „Kammersänger“. Es sind drei
Szenen, um den gefeierten Tenor Oskar Gerardo herumgeschrieben.
Ein Typus, der aus der Marlitt=Romantik in die Wahrhaftigkeit
#. 1710
1. Februar 1914#
lußerlich. Die Konturen sind gegehen. (Mit Entzücken erinnere ich
mich des alten Hans Pagay, der bei der ersten Berliner Aufführung
vor sechzehn Jahren diese Rolle spielte; er war rührend und
erschütternd.) Die schöne Frau, die sich des Kammersängers wegen
erschießt, wurde von Frau Kalling sehr hysterisch und sehr tragisch
gespielt; auch hier hätte ein karikaturistischer Zug die Ueberleitung
zum Ernst bilden müssen. So kam ein langatmiges Spiel zustande.
bei dem Wedekind Gefahr lief, zu mißfallen. Der Beifall hielt
sich auch in gemäßigten Grenzen und einige fühlten soger das
Bedürfnis, zu opponieren.
Den Abend setzte Courteline fort. Auch er ist einer, an denk
das Burgtheater bisher vorbeiging. Man führte den weltweisen
Franzosen mit der tragischen Posse „Boubouroche“ ein.
Boubouroche ist heute schon ein Begriff, eine Gattung Mensch, fast
ins Klassische aufgerückt. Boubouroche ist der gutmütige, brave
Bürger, der von einer Frau betrogen wird. Er findet einen
Mann im Wandschrank, und doch kann ihm die kleine Kanaille
schließlich einreden, daß er nicht betrogen wurde. Was geht ihn
denn ein Mann an, den er nicht einmal kennt? Die Hilflosig¬
keit eines besuemen Verliebten ist niemals grausamer perfifliert
worden. Herr Treßler ist als Boubouroche ganz außerordentlich.
Schon in der Maske und Erscheinung gibt er den Typus: ein kusz¬
stirniger Spießer, dick, untersetzt und schwerfällig. Herr Treßler
hält das Wohlbehagen der Selbstzufriedenheit und den jähen
Wechsel der Stimmung glänzend auseinander. Er gerät in ein
wildes Rasen, und die Vorniertheit, mit der er sich dann von
dem kleinen Weibchen wieder herumkriegen läßt, ist brillent
charakterisiert. Sehr nett spielt Frau Retty die Verschlagenheit der
Untreue. Dafür verdirbt wieder Herr Zeska die besten Szenen. Ab¬
gesehen davon, daß ihm für die gegensätzliche Rolle zu Boubouroche die
liebenswürdige Beweglichkeit der Jugend fehlt, hat er eine geschniegelte
Tenoristenart heiter zu sein, die überall, nur nicht hier, hinein¬
paßt. Er weiß auch kaum, wo die vielen komischen Detail¬
Husschnitt aus: od Wiener Journal, Wien
wirkungen der Rolle liegen, und greift zu unmöglichen Behelfen:
Chauffeuranzug und Huppe. In einer kleinen Episobe zeigt Herr
1- 2.1975
vom:
Frank ein spitziges Talent für Humor; man hätte ihm die Rolle
Anhan
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des Herrn Gimnig zuteilen sollen, der für den hämischen Flur¬
nachbar, der den guten Boubouroche aufklärt, nicht genug Witz
Theater und Kunst.
aufbringt.
Der Zweiakter hatte seinen üblichen Erfolg. Den Schluß
Premierenabend im Burgtheater.
des Abends, dessen Stücke nur einen entfernten inneren Zusammen¬
(Zum erstenmal: „Der Kammersänger“ drei Stenen von Frank
hang haben, bildete Schnitzlers „Literatur“. Der seine Spaß ist auch
Wedekind.
„Boubouroche“, tragische Posse von Georges
nicht mehr neu. Aber man sieht ihn immer wieder gern. In
Courteline, deutsch von Siegfried Trebitsch. — „Literatur",
diesem Akt wird das „Metier“ bissig beleuchtet. Das Leben als
Lustspiel in einem Akt von Artur Schnitzler.)
Literatur und die Literatur ins Leben umgemünzt. Fräulein
Von
Marberg spielt die komplizierte Frau, die aus der Baumwoll¬
Leopold Jacobson.
branche auf dem Umweg über die Literatur in die Aristokratie
Mit Trompetenton und Hosiannah den Einzug Wedekinds hineingerät. Sie gibt der Figur ihren amüsanten parodistischen Witz.
in das Burgtheater zu begrüßen, ist kein Anlaß. Was vor und es ist sehr lustig, wenn sie im Dialog plötzlich einen Hauch
Jahren noch als Tat erschienen wäre, ist heute künstlerische Selbst= von Leopoldstadt ahnen läßt. Der Baron mit den gepflegten
verständlichkeit. Man darf sagen: Notwendigkeit. Für Wedekinds Fingernägeln und dem ungepflegten Hirn ist wieder Herr Treßler;
Entwicklung bedeutet das Burgtheater gar nichts; für das Burg= er bietet eine feine und diskrete Charakterstudie. Den plebejerischen
theater aber bedeutet Wedekind, wenn auch nicht Alles, so Kaffeehausliteraten stattet Herr Heine mit seinem eindringlichen
doch viel;
Humor aus, und dieses Zusammenspiel der drei Künstler ließ
eine Ehrensache, eine
Unterwerfung vor
auch nicht den kleinsten Rest von Wirkung verloren gehen.
starken Gegenwartswerten, einen geschäftlichen Erfolg,
eine dankbare Aufgabe. Literarischer Konservatismus, Angst vor
Für alle drei Autoren dankte der diensthabende Regisseur
anarchischer Weltanschauung, Trotz gegen eigenwilliges Künstlertum,
Herr Deprient.
Mißverstehen einer neuen Weltethik, find Dinge, die immer Widerstand
erwarten lassen. Das ist alltäglich und nicht nur bei Hoftheatern Brauch.
Aber die Politik der Kompromisse hätte zumindest die drei Szenen des
„Kämmersängers“ längst ins Burgtheater bringen müssen. Sie
sind nicht revolutionär, nicht anstößig, haben Normalmaß und
gerade so viel Aeußerlichkeiten, daß die Konterbande bequem ein¬
zuschmuggeln war; nur wenige hätten den tieferen Sinn gemerkt.
Aber es ist so Landesbrauch, daß man ganz erstaunt sein möchte,
weil Wedekind doch noch ins Burgtheaser kam; daß es einen
Augenblick lang reizt, den Dichter zu beleuchten. Aber er ist nur
fürs Burgtheater neu, nicht für die Zeit, beinahe schon überholt,
aus dem Streit des Tages ausgeschieden, sogar zurückgeblieben.
Man kennt diesen Einakter „Kammersänger“. Es sind drei
Szenen, um den gefeierten Tenor Oskar Gerardo herumgeschrieben.
Ein Typus, der aus der Marlitt=Romantik in die Wahrhaftigkeit